Das Neue wollen

Migration ist Ausdruck von Elend und dem Willen zu einem besseren Leben. Bankrotterklärung und positiver Aufbruch geben sich hier die Hand. Ein neuer Forschungsansatz untersucht diese Ambivalenz

VON MICHAEL WILLEMBÜCHER

Noch ein Buch, das uns von den unüberwindlichen Festungsmauern erzählt, mit denen die Staaten der Europäischen Union die neue Migration aus dem Süden und Osten abzuwehren gedenken? Noch ein Buch, das uns mit erschütternden Geschichten aufrütteln möchte?

Erfreulicherweise liegt mit „Turbulente Ränder“ ein Band vor, der einen gänzlich anderen Weg beschreitet. Dabei finden sich auch hier sämtliche Themen, die man gewöhnlicherweise mit dem Sujet „Festung Europa“ assoziiert: Lager, Schmuggeln, Trafficking, die Rolle der EU und die der Zivilgesellschaft. Nur scheint hier alles auf dem Kopf zu stehen. Die NGOs sind in den Augen der AutorInnen nicht einfach die Antagonisten der Staatsapparate, sondern verändern durch ihre Praxis die Staatlichkeit der Grenze. Die Schlepper sind zwar manchmal skrupellos, aber auch Dienstleister, und oft verschwimmt die scheinbar moralisch objektive Grenze zwischen Migranten und Schleppern. Die Lager schließlich dienen weniger dazu, Migration aus Afrika und Asien an den Außengrenzen abzufangen, als vielmehr ansonsten unsichtbar bleibende Bewegungen zu filtern und zu steuern.

Diese und ähnliche Ergebnisse sind auch das Produkt einer spezifischen Forschungsstrategie, die auf zwei Prämissen beruht: Sie verabschiedet sich vom weitverbreiteten Stereotyp des Migranten als atomisiertem Individuum, das den Push- und Pullfaktoren der Arbeitsmärkte wie eine Marionette ausgeliefert ist. An dessen Stelle tritt das Netzwerk, die kalkulierte Strategie, die Vision von einem besseren Leben, kurz: das lebendige Subjekt der Migration.

Die zweite methodische Voraussetzung ist das Konzept vom Transnationalismus. Anders als der Nationalismus will dieses Migration nicht nur als eine Bewegung der Abreise aus einem und der Ankunft in einem anderen Land denken und damit als Anomalie oder schlimmstenfalls als Integrationshindernis fassen.

Ein Schwerpunkt des Bandes ist infolgedessen die Auseinandersetzung mit konventionellen Repräsentationsmustern von Migration. Rutvica Andrijasevic etwa legt eine bemerkenswerte Analyse von Plakatkampagnen der Internationalen Organisation für Migration vor. Sie macht deutlich, dass es solchen Kampagnen häufig weniger um das Leid etwa von Frauen geht als vielmehr darum, sie von ihrem Migrationsprojekt abzubringen. Der zugleich viktimisierende und kriminalisierende Diskurs über Sex-Trafficking wird instrumentalisiert für die voyeuristische Fixierung des weiblichen Körpers als Opfer und zum Teil auch für eine neokonservative Verortung der Frau in Heim und Nation.

Im Hinblick auf den Tourismus und auf kuratorische Praktiken zeigen die Beiträge von Ramona Lenz und Marion von Osten, wie das hegemoniale Bildarchiv den globalen Süden als Ort der Rückständigkeit konstruiert, eingebettet in Armut, Tradition, Ursprünglichkeit und Naturnähe. Die dadurch gewonnene Dichotomie „traditionell versus modern“ dient als immer wieder aktivierbarer Code, um in der Migrationsdebatte rassistische Ressentiments abzurufen.

Letztlich fasst der einleitende Satz „Das Wort Transit bedeutet hindurchgehen, aber auch darüber hinausgehen“ des Beitrags zur „Autonomie der Migration“, die zentrale Idee des Forschungsprojektes zusammen. Das Projekt „TransitMigration“ öffnet damit den Raum für eine andere Erzählung, in der Migration weder nur als Problem noch als die vielbemühte, meist „kulturelle“ Bereicherung vorkommt. Stattdessen gilt es, Mobilität und Flucht in ihrer ambivalenten Produktivität fruchtbar zu machen: Denn obwohl Migration oft in extremer Ausbeutung endet, ist sie auch Quelle subjektiver und kollektiver Imaginationen für ein anderes Leben.

Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): „Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas“. transcript 2007, 250 S., 24,80 €