Wenn Lenin das wüsste

Für die einen bedeutete die erste freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 den ersehnten Abschied von der SED-Herrschaft. Für andere war es der Zusammenbruch. Wie für Friede Barthlow

VON THOMAS FEIX

Der Verkehrsschilderwald, wenn sie einkaufen fährt, was für ein Wahnsinn. Die Menschen, die sie sieht, sie ducken sich, alles nur noch Jasager. Der Palast der Republik, einst war er Symbol und nun wird er vernichtet. Sie hat das Gefühl, sogar beim Wetterbericht im Fernsehen komme der Osten schlecht weg.

„Das hier ist der sogenannte Bulgarenblock.“ Friede Barthlow* blickt zur Decke hoch und dann nach draußen. „Drüben der Tschechenblock, daneben die Chinesen.“ Und als die Rede wieder auf die Moschee kommt, sagt sie: „Nun reiten Sie man nicht so drauf rum, sie wird ja nun gebaut.“ Die Bulgaren von der Botschaft sind nicht eingezogen, damals, 1980, als der Neubau bezugsfertig für sie war, 126 Wohnungen, in Berlin-Pankow, im Vinetakiez, in ruhiger, gediegener Umgebung. Die Leute von der tschechischen Botschaft sind gekommen, und sie sind noch da, die Chinesen und ihre Handelsvertretung auch. Und weil die Bulgaren nicht wollten, durften Frau Barthlow mit Mann und den beiden Söhnen und andere Familien, die im Staatsdienst waren, in den Block Arnold-Zweig-Straße 38 bis 48 einziehen.

Sie sagt nicht, weshalb sie gegen die Moschee ist. „Nein, das möchte ich nicht.“ Die Stelle, an der sie bald stehen wird, ist in einem anderen Pankower Viertel, in Heinersdorf, weit weg von der Plattensiedlung, in der Frau Barthlow seit 27 Jahren lebt. Na und. Sie ist trotzdem dagegen, schließlich ist es ein und derselbe Stadtbezirk, schließlich war das alles mal DDR. Diszipliniert, überschaubar, wichtig. Mit Botschaftsresidenzen an der Kuckhoffstraße und an der Esplanade, Schloss Niederschönhausen, Bürgerpark und den Häusern der hohen SED-Kader am Majakowskiring. Schließlich geht es um die Heimat, die Identität. Schließlich geht es um die Weltanschauung.

Frau Barthlow kann nur montags, mittwochs und freitags. Und da immer nur am Nachmittag. Da ist ihr Mann im St.-Hedwigs-Krankenhaus in Mitte, zur Dialyse. Chronische Niereninsuffizienz, er hat Diabetes, und vor 15 Jahren hatte er einen Schlaganfall. Er liegt fast nur im Bett und sieht fern. Frau Barthlow hat eine Ausbildung zur Krankenpflegerin gemacht, damit sie ihn betreuen kann. Das hält die beiden zusammen, das ist jetzt ihre Liebe, 43 Jahre sind sie verheiratet. Sie sind Kameraden, er kann nicht ohne sie und sie nicht ohne ihn; ausgeschlossen, dass Frau Barthlow auch nur für einen Tag irgendwohin fährt ohne ihren Mann.

Sie misstraut allen und allem, sie ist so weit. Den Ärzten, dem Pflegedienst, den Behörden, der Politik. Kreuz und quer, rauf und runter. Nur sich selber misstraut sie nicht, so ist ihr Charakter, sie kann nicht verstehen, dass es viele Meinungen gibt und nicht bloß ihre. „Vor allem die Ärzte.“ Gott, was hat sie da für Pfuscher kennengelernt. Ein Thema für sich, lassen wir das. Sie winkt ab.

Madame Melange, die buntgescheckte Katze, läuft rüber ins Zimmer von Herrn Barthlow, dreht sich noch mal um und verschwindet unterm Bett. Sie verträgt keinen Besuch, vielleicht liegt es daran, dass sie so dick ist und sterilisiert und nicht mehr die Jüngste. Vielleicht schämt sie sich, weil sie nicht mehr den Kratzbaum hochkommt.

Auf dem Wohnzimmertisch ein Buch. Roter Einband, blutrot, mit dicken, weißen Lettern. „Opfer der Einheit“, aus der Reihe „Psychologie sozialer Ungleichheit“. Auf dem Sofa, in der Anbauwand, überall Bücher, in der Ecke, im kleinen Zimmer nebenan. Belletristik, Sachbücher, Bildbände. Frau Barthlow liest, so viel sie kann, immer mehrere Bücher gleichzeitig.

Opfer der Einheit? „Ich hab es Ihnen hingelegt, damit Sie mal reinschauen“, ruft sie aus der Küche, sie raschelt mit Servietten, die Kaffeemaschine blubbert. In die Seiten, die ihr wichtig sind, hat Frau Barthlow Zettel geschoben, zwei sind es. Kapitel drei, Biografien von DDR-Lehrern, vor der Wende von 1989, während der Wende und danach: ein Weg in die Arbeits- und Zukunftslosigkeit. Kapitel fünf, Politische Aktivität von DDR-Lehrern vor der Wende (75 Prozent) und danach (25 Prozent), von der Blüte in den Verfall.

Frau Barthlow war „Erzieherin mit Lehrbefähigung“ in einem Internat, also praktisch Lehrerin, ehe sie 1976 beim Dienstleistungsamt für ausländische Vertretungen in Berlin anfing. Sie war in der Partei, Staatspartei, SED, sie war hundertprozentig dabei, von 1966 an bis zum Ende der Partei und der DDR im Herbst und Winter 1989, sie war Parteisekretär ihres Kollektivs, hatte die Aufsicht über siebzig Genossen, sie war in DRK, DSF, DFD, FDGB, wie die gesellschaftlichen Organisationen alle hießen, und war auch da nicht bloß ein zahlendes Mitglied.

Anfang 1990 der Absturz, die Arbeit weg, die Funktionen, die Organisationen, der ganze Halt, den sie hatte, alles weg, sie hat geputzt, Bürozuarbeiten gemacht, ABM-Stellen durchlaufen, Katastrophen, sagt sie. Sie wollte wieder rein in Lohn und Brot, fest, wie früher, arbeiten, mitmachen, aber die Damen vom Arbeitsamt sagten, was wollen Sie, Frau Barthlow, Sie können doch nichts, Sie sind raus, sie sagten es fünfzehn Jahre lang, die Zeit verging, und seit zwei Jahren ist Frau Barthlow nun Rentnerin. Vorbei. Nicht mal eine Chance. Mitten rein in die besten Jahre. „In der DDR gab es Privilegierte, das war nicht schön, sicher, aber jetzt gibt es sie wieder, Privilegierte der Arbeit: die, die Arbeit haben, und die, die welche geben.“ Das hört sich an wie gelesen, gut gefunden und auswendig gelernt, wie ein Bonmot, aber es tut ihr gut, es ist ihr anzumerken, in ihrer Verzweiflung, ihrem Zorn.

Nutzlos fühlt sie sich, heimatlos, nicht gewollt und abgelehnt, und das, seit es das vereinigte Deutschland gibt, seit bald siebzehn Jahren. Wie die beiden Söhne, die 1989 Mitte zwanzig waren, der eine, jüngere, hatte in Irland Arbeit gefunden und ist sie auch schon wieder los, die Polen sind gekommen und die Esten, billige Kräfte aus den neuen Staaten der EU. „Ich muss die Polen und die Esten ja nicht gut finden, nur weil sie jetzt in der EU sind. Überhaupt, der Euro, die EU, was soll das, wir im Osten hatten grad die D-Mark gekriegt, was gehen uns die anderen an?“, sagt Frau Barthlow dazu. Der Älteste hat einen DDR-Ingenieursabschluss, der nützt ihm nichts, gar nichts, nicht im vereinigten Deutschland, haben sie ihm stets bei der Bewerbung gesagt, jetzt hat er mal hier, mal da einen Job, schlecht bezahlt, unsicher und weit unter seiner Qualifikation, und kriegt keinen Boden unter die Füße.

Herr Barthlow, ein Kreuz wie ein Schrank, diplomierter Landwirt, Führungskader, zuletzt Vorsitzender des Kleintierzüchter- und Siedlerverbandes der DDR, ständig unterwegs, viel im Ausland. 1990 das Aus, er kam beim Wachschutz unter und war von da an ein hilfloser Mensch, orientierungslos. Zwei Jahre später der Schlaganfall, er hat die Wende nicht verkraftet, davon ist Frau Barthlow überzeugt. Sie sagt: „Meine Familie wurde dafür bestraft, in der DDR und für die DDR gelebt und gearbeitet zu haben. In einem Land, das den Kapitalismus und die Arbeitslosigkeit überwunden hatte. Und dann ist beides mit der Vereinigung zurückgekommen.“ Aber hatte nicht jeder im Gegenteil geglaubt, mit der Vereinigung wäre die DDR überwunden? „Die BRD wird bald überwunden sein, sie wird untergehen, sie hat versucht, die DDR zu schlucken, und daran würgt sie immer noch.“ Das Buch auf dem Tisch liegt da wie eine Mahnung, dicke, weiße Schrift auf rotem Einband: „Opfer der Einheit“.

Sie glaubt die DDR von der BRD besetzt, das ist kein Wahn, sie meint es emotional, sie kann sich nicht beherrschen. „Wie die Heuschrecken fielen sie 1989 bei uns ein. Nach dem Krieg hat alles in Trümmern gelegen, und als wir es nach vierzig Jahren mühsam wiederaufgebaut hatten, sind die Schwärme aus dem Westen gekommen, um sich satt zu fressen.“

Dann fällt das Wort vom Klassenfeind, plötzlich, zuerst wie nebenher, dann unüberhörbar, in aggressivem Ton: Die Kriegstreiber, die Nato-Generäle, die Politiker der bürgerlichen Parteien, sie alle sind der Klassenfeind, die SPD geht grade noch so durch, „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, zitiert Frau Barthlow mit dem Lächeln, das die Wissenden haben. „Die BRD hat vierzig Jahre Sozialismus in der DDR mit übernommen. Er ist nicht tot, Sie werden es erleben“, sagt sie dann noch mit demselben Lächeln.

Frau Barthlow ist nicht schlank und nicht groß. „Ich war schon immer stämmig.“ Ihre Unterarme sind so mächtig, dass zwei Männerhände sie nicht umfassen könnten. Eigensinnig wirkt sie, resolut. Nicht besonders hübsch, vielleicht nicht einmal besonders interessant. Ein Gesicht, das man überfliegt und sofort wieder vergisst. Im Supermarkt, auf der Straße, in der U-Bahn. Ihr Leben lang hat sie gearbeitet, sagt sie, dann der Mann, die Kinder, keine Zeit für Schminke, Schmuck und schicke Schuhe. Für Gehabe, Fisimatenten, sie macht es vor, spitzt die Lippen, spreizt die Finger. Manchmal holpert es, wenn sie spricht. Als wäre ihr Leben nichts als Geschichte, karge, strenge DDR-Geschichte.

Jahrgang 1943, geboren im Oderbruch, nahe der polnischen Grenze, in einer abgeschiedenen Gegend, in einem kleinen Dorf. Die Mutter eine schwache, unsichere Frau, den Vater erschossen russische Soldaten, die plündern kamen, im Frühsommer 1945, als schon Frieden war. Friede Barthlow wurde quasi von allein groß, es gab nur ein paar Kinderbücher, an die sie sich halten konnte, „An den Ufern des Amu-Darja“ zum Beispiel oder die Märchen von Hauff und den Brüdern Grimm.

Es war die Zeit der „Henry“-Milchdrops mit Schokofüllung und der Maiblätter, giftgrüne Bonbons, die lose zu kaufen waren und in der Faust klumpten. Es war die Zeit, da die Halbwaisenrente zwölf Mark betrug, ein Dreipfundbrot eine Mark kostete und es immer Arbeit gab. Für Frau Barthlow seit sie fünf war, im Garten, im Haus, auf dem Feld, beim Bauern auf dem Nachbarhof. Nach dem Schulabschluss lernte sie auf dem Volksgut und arbeitete im Stall, Kühe melken, mit der Hand, zwölf Stück, zweimal am Tag. Mit zwanzig heiratete sie Wolfgang, ihren Mann, und bekam die Söhne im Abstand von zwei Jahren, Harald und Joachim. Es lief, wie es zu laufen hat im Staat Deutsche Demokratische Republik, mustergültig, ohne Bruch, linear: Schule, Lehre, Beruf, Ehe, Nachwuchs.

Mit 23 SED, der Mann und die Vorgesetzten hatten es ihr vorgeschlagen, sie war mit ganzem Herzen eingetreten. Dann Lehr- und Fernstudiengänge zur Erzieherin, sie fühlte sich dazu berufen. Weiterbildungskurse, Parteischule, Parteiversammlungen, sie saß sich den Steiß wund, sie wollte mittendrin sein und obenauf. Mitgestalten – die Parole der Parteipropaganda nahm sie wörtlich, sie war ehrgeizig, sie wollte Karriere machen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ja natürlich, warum denn nicht. Die Familie wohnte nicht mehr im Oderbruch, sie war inzwischen nach Strausberg gezogen, in die Nähe von Berlin.

Dort hörte Frau Barthlow vom Dienstleistungsamt für ausländische Vertretungen und dass sie Mitarbeiter suchten. Sie bewarb sich und bekam eine Stelle. Dass sie SED-Mitglied war und keine Westverwandtschaft hatte, war gut, das half bei der Bewerbung. Der neue Arbeitsplatz war Unter den Linden Ecke Otto-Grotewohl-Straße, Frau Barthlow blickte vom Büro aus auf Mauer und Brandenburger Tor. Sie betreute drei Botschaften aus den sozialistischen Ländern. Sie hatte Alltägliches zu erledigen für das Botschaftspersonal, Wohnungen besorgen, Behördengänge erledigen, nichts Politisches; sie sagt, sie hatte keine Privilegien, sie kriegte nicht mal einen Teil des Gehalts in Devisen wie andere im diplomatischen Dienst, ach wo.

Sie wollte weiter, höher hinaus. Als sie fast vierzig war, suchte sie um ein erneutes Fernstudium nach, in Aschersleben, Bezirk Magdeburg, Staat und Recht, Anwalt für Arbeitsrecht wollte sie werden, Arbeitsrecht interessierte sie. Es wurde nichts. Zu alt, sagten die verantwortlichen Genossen, zu spät, sie akzeptierte, grollend. 1982 war das, und noch sieben Jahre bis zum Ende der DDR.

„Natürlich musste man sich durchbeißen, man bekam nicht alles vorgesetzt oder den roten Teppich ausgerollt Es gab Mobbing und Intrigen, und wie! Und wenn man nicht besonders schön war, im landläufigen Sinne, meine ich, keine Protektion hatte oder einflussreiche Verwandtschaft, hatte man es doppelt schwer. Ich habe etliche der Genossen nicht gemocht, mit denen ich den Sozialismus aufgebaut habe. Egal, es ging mir um den Sozialismus. Und um nichts anderes sonst.“ Sie hat immer mitgeredet, sich eingemischt, ist angeeckt, und darauf ist sie stolz.

Sie sitzt inmitten ihrer Bücher, die Unterarme auf den Schenkeln, und fragt, ob sie Kaffee nachschenken soll. Madame Melange kommt unterm Bett hervor, sie nascht vom Wildlachs auf dem Teller in der Küche. Die einzige Leidenschaft, die ihr geblieben ist.

Die Bücher geben Frau Barthlow recht und Halt. Alte und neue Titel, DDR-Literatur, Titel aus West und aus Ost, sie bestellt sie beim Verlag Edition Ost und beim Weltbildverlag. Sie geben ihr eine Wahrheit, die sie weiß, seit je weiß, auch ohne dass sie die Zeitung aufschlagen müsste oder den Fernseher anmachen. Sie muss sie nicht ergründen. Höchstens vielleicht illustrieren, mit Hilfe dieser Titel: „Mafia im Staat“, „Im Visier: die DDR“, „Das zweite Deutschland. Ein Staat, der nicht sein darf“, „Pleiten und Profite“, „Vom Verlust der Scham und dem allmählichen Verschwinden der Demokratie“.

Sie liest nur solche Bücher, die die DDR verteidigen, direkt oder indirekt. Und dann und wann einen Roman, einen historischen Roman, zur Zerstreuung. „Ich lasse mir von niemandem sagen, was ich gehabt zu haben habe“, verhaspelt sie sich, weil sie aufgeregt ist, und meint die DDR. Die darf ihr keiner madig machen. Auch keiner, der selbst DDR-Bürger war. Wessis sowieso nicht. Da wird sie schnell grantig und ungeduldig, schnappt mit dem Mund und richtet ihre blassgrauen Augen auf das Gegenüber.

Sie lässt kein Argument gelten, keinen Einwand. „Heute ist es auch nicht besser, als es damals gewesen ist, eher noch viel, viel schlimmer“, sagt sie etwa in solchen Momenten. „Lassen Sie man gut sein, ja.“ Beweisen muss sie es nicht. Wozu auch. Steht doch alles in ihren Büchern drin, schwarz auf weiß. Überall Kungelei, unlautere Methoden. Beutelschneiderei. Und dann legt sie los.

Sie redet über die Kindergärten in der DDR, über die Kinderbetreuung überhaupt, und die Vorsorge, die der Staat für seine Bürger traf. Sie ist den Tränen nahe, als sie auf vierzig Jahre DDR zu sprechen kommt, vierzig Jahre ihres Lebens, ihre wichtigste Zeit, der Staat DDR wurde gegründet, als sie sechs Jahre alt war. Über den Herbst 1989 kann sie nicht reden, er ist ein Ereignis, das sie bis heute nicht versteht. Sie erinnert sich nur noch an ihr Entsetzen, als sie am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz miterlebte, „wie viel Bosheit und Hass“ der SED entgegenschlug, ihrer Partei. Sie glaubt immer noch, die Öffnung der Mauer fünf Tage später wäre aufzuhalten gewesen. „Irrsinn“, schimpft sie. Und: „Schabowski, der Verbrecher.“ Das „Pack von Leipzig“ hat sie vor Augen. Die Massen, die montags demonstrieren gingen, während der Rest der DDR „für sie mitarbeiten musste“. Über die erste freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 sagt sie, dass sie für „links“ gestimmt hat und warum die SPD damals nicht mit der SED/PDS zusammengegangen ist, um die Vereinigung zu verhindern, „es wäre ihre Pflicht gewesen, historisch und politisch“. Die DDR, die Jahre, die Energie, alles umsonst, oder was?

Sie nimmt die Hände vor das Gesicht, oft, reibt sich die Stirn, die Augen, als ob sie ausspannen müsste, augenblicklich. Von der Mühe, Sätze zu formulieren, wahre Sätze, provokante Sätze, druckreife Sätze. Wie die in den Büchern, die sie liest. Sie sagt: „Was die Arbeiter erarbeiten, verschleudern die Manager.“ – „Hätten wir nicht die Russen mit ihren Reparationsforderungen gehabt, hätten wir in unserer kleinen DDR leben können wie in Dubai.“ Oder: „Wenn Lenin wüsste, was hier passiert, er würde sich im Grab umdrehen.“

Über dem Sofa ein Gemälde, eine ideale Landschaft. Säulen im Vordergrund, Blütensäume und ein See, im Hintergrund Zypressen, ockerfarbene Häuserzeilen und schroffe, kahle Berge. Eine Stimmung wie am Gardasee, hat Frau Barthlow sich das Sujet vom Verkäufer erklären lassen. Anrührend, so was bei ihr zu sehen und nicht etwas Klassenkämpferisches. Was mit „Bau auf“-Pathos“ vielleicht. Nichts davon. Stattdessen die Sehnsucht nach Leichtigkeit und Ferne. Nach Vergessen.

Nach Norwegen würde sie gern mal, im Winter, sich die Fjorde ansehen, die Kälte spüren, bloß so. Sie kennt den Gardasee nicht, Italien, sie war noch nie dort unten, damals der Traum jedes DDR-Bürgers. Wie abwesend sie darüber spricht. Sie war Reisekader, das war ihr Privileg, sie hätte in den Westen gedurft, sie wollte nicht. Sie fuhr in den FDGB-Urlaub nach Lobenstein in Thüringen oder mit ihrer Kindergruppe an die Ostsee. Sie lacht und löst die Glieder, als sie von dieser Zeit erzählt.

Doch, sie war im Westen, zweimal. In Österreich, in der Schweiz, 1990 und 1991, als West- und Ostdeutschland gerade vereinigt waren. Sie fuhr mit der Bahn. Nach Wien durch den Osten durch, über Dresden und Prag. Um nach Genf zu kommen, musste sie durch den Westen durch, über München und Stuttgart, „durch die BRD durch“, sie sagt es ohne Ironie.

Ein Glas Leitungswasser steht auf dem Tisch, sie trinkt, sagt eine Weile nichts. „Ich passe auf die Worte auf, die ich benutze und die andere benutzen“, sagt sie dann, als wollte sie bloß das Schweigen überbrücken. „Ich achte auch auf die Grammatik, und da besonders auf den Genitiv.“

Nicht „wegen die Überfremdung“, „der Überfremdung wegen“, heißt es, sagt sie als Beispiel. Weitere Beispiele folgen nicht, denn Frau Barthlow fängt nun zu erklären an: „ ‚Überfremdung‘, ich mag das Wort nicht, ich weiß, woher es kommt und worauf es abzielt. Es trifft nicht das, was ich meine, aber mir fällt kein besseres dafür ein.“ Warum benutzt sie es denn dann? Sie, die so sehr auf Worte aufpasst. Sie wedelt mit der Hand, als wollte sie sich Luft zufächeln: „So ist es wenigstens raus.“

Dass der Islam die Weltherrschaft erobern will und wird, hat sie gehört und gelesen. „Deshalb bin ich gegen die Moschee. Ich denke, dass die Moslems uns überfluten mit ihren Gebeten und Ritualen.“ Dann sagt sie gleich, dass die Republikaner sich in Pankow immer weiter ausbreiten und auch in der Bezirksverordnetenversammlung sitzen, das macht ihr noch viel größere Sorgen.

Sie denkt, die Moschee könnte Pankow noch rechter machen, als es schon ist. Sie denkt, dass „das rechte Geschleuder“ die Moschee angreift und die Muslime in derselben Weise antworten. Sie denkt an Tumulte, an Straßenschlachten. Sie denkt alles Mögliche, ihr Weltbild ist zusammengebrochen, ein neues hat sie nicht, will sie nicht, sie klammert sich an die Trümmer, sucht nach einem festen Punkt in dem, was sie als das Chaos empfindet. Sie fürchtet sich. Dennoch ist sie überzeugt, dass sie richtigliegt. Sonst hätte sie sich nicht hingesetzt und würde nicht reden.

„Was nützt mir die Freiheit, zu sagen, zu denken und zu tun, was ich will, wenn ich Angst habe, zu sehen, wie andere sie gebrauchen? Was nützt diese Freiheit all jenen, denen es ähnlich geht wie mir?“ Sie fühlt sich als Kommunistin, auch wenn sie seit Gysi nicht mehr in der Partei ist: „Trotz alledem, der Idee des Sozialismus bleibe ich verpflichtet.“ Deshalb fühlt sie sich von allen Seiten bedroht. „Maßnahmen“ ist eines ihrer Stichwörter, „Rahmenbedingungen“ ein anderes. Beide klingen sie nach Verhinderung, nach Muff, nach Mauer und nach Schießbefehl. Sie sucht nach Fehlern, Abweichungen, Verschwörungen, nach Schuldigen und nach Verrätern, nicht nach der Vernunft, nach dem Sinn dessen, was geschieht oder geschehen ist. Es ist ihr nicht vorzuwerfen. Sie hat es nicht anders gelernt, nicht anders erfahren, und es passte doch immer. In der DDR, in der es nur Erfolgsmeldungen gab oder gar keine.

Gorbatschow und Wałesa – „Wallööönsa wird der ja wohl ausgesprochen, pfff“. Allein die Aussprache des Namens kommt ihr verdächtig vor. Beide schuldig, beide Verräter, der Russe und der Pole, vom Westen ausgestattet mit Geld und Plänen zum Sturz des sozialistischen Weltsystems. Die Bürgerrechtler, nichts als ein Haufen frustrierter Gestalten, vaterlandslos, skrupellos, prinzipienlos. Nur Erich Honecker ist ihr ein guter Mann, ein großer Mann. Ein Opfer. Er tut ihr leid. Schwer gekämpft habe er, um das Land, um die Partei, und war am Ende unterlegen. Er stand allein da, schwerkrank, wie er war, und wollte nur das Beste.

Seltsam faszinierend, das zu hören. Verteidigt sie so ihre Würde? Indem sie anderen die Würde nimmt? Bisschen Würde für ihr Leben, bisschen Würde für sie selbst? Oder nur: Je ungeliebter die Gegenwart, desto herrlicher die Vergangenheit? „Warum sollte ich den Staat lieben, der mir keine Arbeit gibt? Das ist keine Vergangenheitsbewältigung, vierzig Jahre DDR einfach runterzumachen. Sie wollen mir mein Leben nehmen, als wäre alles nur grau und trist und ein einziges Verbrechen gewesen. Sie wollen die DDR vergessen machen, sie wollen Einheit und Frieden auf Biegen und Brechen.“

Frau Barthlow sagt nicht, wen sie mit „sie“ meint, vielleicht meint sie wieder finstere Mächte, vielleicht weiß sie es selbst nicht. Sie weiß nur: Die DDR ist gegangen und hat sie zurückgelassen, ohne Abschiedsgruß, ohne Erbteil, ohne Trost, sie und die vielen anderen, deren Heimat und Identität die DDR war und ist. Und das auf dem Boden der BRD. Was haben sie denn da sonst noch außer der Erinnerung.

„Das Gute am vereinigten Deutschland? Was meinen Sie damit? Die 8.000 neuen Gesetze und Verordnungen etwa, die man uns übergeholfen hat?“ Na gut, sagt sie dann nach einer Pause, die Medikamente für ihren Mann. Für die ist sie dankbar. Er wäre wohl sonst längst tot. Auch die Bücher sind das Gute am vereinigten Deutschland, so viele Bücher, das gab es früher nicht. Zum ersten Mal blickt sie ruhig über ihre Brille hinweg und wird verbindlich, fast versöhnlich.

„So, wie die DDR 1989 war, hätte ich sie auch nicht mehr haben wollen. Vieles an ihr hätte verändert werden müssen, aber sie wäre es wert gewesen. Wer wie ich durch die DDR geprägt ist, vermisst vieles aus der Zeit, zu vieles. Man kann uns nicht einfach so wenden, umdrehen, anpassen.“ Positiv geprägt durch die DDR, sie betont es, sie möchte, dass das nicht vergessen wird. Positiv, sie will Heine vortragen, „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, der Band liegt schon bereit, und lässt es bleiben.

Am Abend, auf dem Rückweg, weit hinten, am Straßenrand, ein parkender Opel Kadett. Auf der Heckscheibe ein riesiger Aufkleber: Born in the DDR.

* Namen geändert

THOMAS FEIX, 46, freier Autor, lebt in Berlin. Nach der Wiedervereinigung studierte er Geschichte, in der DDR war ihm dies verwehrt