In der feinen Gesellschaft

„Ehrensachen“: Louis Begley erzählt von Jüdischsein und Jüdisch-sein-Müssen, vom Geldadel und von lebenslanger Freundschaft

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Louis Begleys Hauptfiguren sind Außenseiter. Sie sind es nicht aus einer selbstgewählten Pose, sondern begreifen ihr Außenseitertum als Makel, als biografischen Defekt. Die Welt, in der sie sich beinahe ausschließlich bewegen, ist die des amerikanischen Ostküsten-Geldadels, die Sphäre der Anwälte, Richter und Kunstsammler. Ein privilegiertes Ambiente, das geprägt ist von Konventionen, Zwängen, Traditionen, von oberflächlicher Geziertheit und darunter verlaufenden Brüchen.

Begley-Helden beherrschen diese Konventionen durchaus, sie sind Teil dieser Welt, äußerlich, und doch auch nicht, denn sie sind erfüllt von einem existenziellen Fremdheitsgefühl. Etwas ist anders an ihnen – sie sind Juden. Die elementare Grunderfahrung des Holocaust, der hier, in dieser so wohlerzogenen Gesellschaft, fern scheint, lauert drohend im Hintergrund, als großer Lebens- und Normalitätsverhinderer. Das Jüdischsein, das Jüdisch-sein-Müssen kommt immer wieder in die Quere.

Die Begley-Geschichte ist bekannt. Der Autor wurde 1933 als Ludwig Beglejter in Polen geboren, überlebte die nationalsozialistische Verfolgung auf abenteuerliche Weise, wanderte in die USA aus, studierte in Harvard Jura und wurde ein funktionierender Bestandteil eben jener Gesellschaft, aus der heraus er in seinen Romanen erzählt. 1991 debütierte Begley mit dem autobiografischen Buch „Lügen in Zeiten des Krieges“, danach folgten diverse zumeist sehr starke Romane; in „Ehrensachen“ nun, so scheint es, greift Begley wieder zurück auf das eigene Leben, wenn auch gefiltert und abgesichert durch einen erzähltechnischen Kniff: Nicht Sam, der Ich-Erzähler, ist der Protagonist des Buches – er fungiert eher als Medium –, sondern Henry, der Jude, der in den frühen Fünfzigerjahren Sams Mitbewohner in Harvard wird. So schafft Begley beobachtende Distanz zu den Geschehnissen und zu sich selbst. Nur so konnte er einen so fabelhaften Roman wie diesen überhaupt schreiben.

Drei Charaktere, drei Figuren mit denkbar unterschiedlicher Sozialisation stoßen gleich auf den ersten Seiten in Harvard zueinander – und werden sich in den darauffolgenden Jahrzehnten nur noch schwer voneinander lösen können: Sam, der vor nicht allzu langer Zeit erfahren hat, dass seine ihm nicht sonderlich sympathischen Eltern ihn nur adoptiert haben; Archie, ein gewandter und gewitzter, aber nicht sonderlich intelligenter Draufgänger, und – Henry White. Sam bemerkt sofort, dass zwischen Henry und der gediegenen College-Umgebung ein so unmerklicher wie unüberbrückbarer Riss klafft: eine Spur anders spricht Henry, einen Hauch daneben liegt er in der Auswahl seiner Garderobe. Nur eine Winzigkeit, doch genau diese ist entscheidend und wird auch bemerkt.

Die jüdische Identitätsbildung der Familie White (die ihren Namen in den USA geändert hat) ist ein zentrales Motiv. Nicht für Henry, der zunächst jegliche Auskünfte über sich und das Überleben in Polen ablehnt. „Eine freundliche Dame hat meine Mutter und mich versteckt. Ein freundlicher Mann hat meinen Vater versteckt.“ So lautet die lakonische Antwort auf zögerliche Fragen. Die ganze Geschichte enthüllt sich erst später. Henry wehrt sich dagegen, das Jüdischsein als festen Bestandteil seiner Identität anzunehmen: „Solange es Leute gibt, die es kümmert, ob ich ein Jude bin, der vorgibt, keiner zu sein, so lange muss ich Jude bleiben, auch wenn ich mir innerlich nicht jüdischer vorkomme als ein geräucherter Schweineschinken.“ Ganz anders Henrys Eltern, die bereits Henrys Weigerung, sich jederzeit offensiv zum Judentum zu bekennen, als Verrat empfinden. Ein labyrinthisches Geflecht von Schuld und Schuldzuweisungen, das Begley hier aufbaut, inmitten einer Gesellschaft, in der ein unausgesprochener Antisemitismus geradezu natürlich erscheint und in der ein Golfclubpräsident öffentlich erklärt, dass es eine Sache sei, wenn die Deutschen Juden umbrächten, und eine andere, es sich auszusuchen, mit wem man Golf spielen wolle.

Doch der Roman ist weit mehr als das. Es ist erstaunlich, welche Vielzahl von Themen Louis Begley unter der Oberfläche verhandelt. Er erzählt die Geschichte einer Freundschaft über mehr als ein halbes Jahrhundert. Er reflektiert, psychoanalytisch aufgeladen, den Prozess des Erwachsenwerdens und der Loslösung von elterlichen Bindungen, zeigt Erwartungsdruck und Kälte. Er entwirft ein Bild einer Ostküsten-Upperclass, die erstaunlich viele Martinis in sich hineinkippt, ohne die es irgendwann anscheinend gar nicht mehr geht. Und selbstverständlich gibt es auch eine unerfüllte Liebesgeschichte, mit der überhaupt erst alles anfängt.

„Ehrensachen“ ist der umfangreichste Roman, den Begley bislang geschrieben hat und vielleicht, neben „About Schmidt“, auch der beste. Dabei hat das Buch durchaus seine retardierenden Momente; Phasen, in denen Sam nach einer Schlägerei, bei der er eine Verletzung davonträgt, in die psychische Instabilität abrutscht. Doch bei allen Abwegen, auf die Louis Begley sich begibt, bleibt eines immer gleich – die distanziert-elegante, mal ironisch blitzende, mal tragisch aufgeladene Sprache, die ihren Stoff so mühelos trägt und immer wieder weiterbringt.

Es bleibt nicht viel übrig nach mehr als fünfzig Jahren. Man ist an Krebs gestorben oder hat sich umgebracht, sich zu Tode gesoffen oder ist abgetaucht. Ob er ihm jemals gesagt habe, dass er das Leben hasse, fragt Henry Sam, den Schriftsteller. Im College hat er nachts geträumt, immer wieder: „Manchmal kann ich nicht wieder einschlafen, und manchmal will ich es auch gar nicht, weil ich fürchte, dass sich dann derselbe Film wieder abspult. Nirgends ein Fluchtort, nirgends ein Versteck.“ Das ist der Alptraum, den sie tagtäglich leben müssen, diese Begley-Protagonisten. „Ehrensachen“ endet dennoch mit einem Licht – dem Funkeln der Sterne.

Louis Begley: „Ehrensachen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 446 Seiten, 19,80 Euro