China von unten

Die preisgekrönten Reporter Chen Guidi und Wu Chuntao berichten über arme Bauern und korrupte Kader in Chinas Dörfern

Die Metropole Schanghai beeindruckt durch Modernität und Dynamik. So wie dieses glitzernde Stadt stellen sich viele Besucher aus dem Westen ganz China vor. Doch das ist ein Irrtum. Vielmehr profitiert Schanghai vom bäuerlichen Elend eines Großteils des Hinterlandes. So stammt ein Drittel der in der Stadt lebenden fünf bis sechs Millionen Wanderarbeiter aus der nur wenige hundert Kilometer westlich gelegenen Agrarprovinz Anhui.

Ein Fünftel von Anhuis Bauern verlassen notgedrungen ihre Dörfer, um in den Städten zu überleben. Die Provinz ist Epizentrum einer bäuerlichen Krise, die Mao Tse-tungs Revolution einst zu beseitigen versprach. Für das Journalistenehepaar Chen Guidi und Wu Chuntao ist die Lage der dortigen Landbevölkerung exemplarisch für hunderte Millionen Bauern.

Chen und Wu, die treue Parteisoldaten sind und deren Glaube an die Kommunistische Partei unerschütterlich scheint, beschreiben in ihrem Buch zur „Lage der chinesischen Bauern“ die Willkür ländlicher Kader und die Rechtlosigkeit der Bauern. So etwa im Fall Ding Zuomings: Der 30-jährige Bauer aus Jiwangchang war einer der Gebildeteren im Dorf. Er merkte, dass die Steuern unrechtmäßig waren, die lokale Kader erhoben. Als er sich zu beschweren wagte, wurde er auf der Polizeistation totgeprügelt. Nicht besser erging es drei Männern im Dorf Klein-Zhangzhuang, die im Auftrag der Dorfgemeinschaft die Finanzberichte der korrupten Dorfkader überprüfen sollten. Sie wurden vom stellvertretenden Ortsvorsteher und seinen Söhnen vor den Augen der Dorfbewohner ermordet.

Erschreckende Fälle wie diese, die aufwendig vor Ort recherchiert wurden, bilden die erste Hälfte des Buchs. Der zweite Teil des mit Zitaten einer deftigen Bauernsprache gespickten Buchs zeigt den verzweifelten Versuch lokaler Agrarexperten, mittels einer Steuerreform die Bauern zu entlasten. Die mehrjährigen Bemühungen, begleitet von herben Rückschlägen, enden mit halbherzigen Reförmchen. Diese führen zu neuen Problemen und neuen Belastungen der Bauern, deren Situation sich kaum bessert.

„Ohne eine Modernisierung der Bauernschaft gibt es keine Modernisierung Chinas“, lautet das nüchterne Fazit der Autoren. Sie sind sich bewusst, dass von den 500 Millionen chinesischen Bauern eigentlich 300 bis 400 Millionen überflüssig sind. Sie wandern bereits jetzt in die Städte ab oder haben dies noch vor sich. Chen und Wu sehen die Komplexität der Probleme. Indem sie widersprechende Expertenstimmen zitieren, zeigen sie, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Die Bauern werden im Verteilungskampf zwischen Stadt und Land wohl weiter die Leidtragenden sein.

Das Buch beschreibt die Anatomie der KP-Herrschaft auf dem Land. Zentral ist die Eigenschaft der Kader, sich stets rechtzeitig den politischen Richtungswechseln im Lande anzupassen. Eigeninitiative und Eigenverantwortung dagegen lassen sie vermissen. Chen und Wu selbst wurden 2004 Opfer eines Richtungswechsels. Zunächst war ihr Buch als aufrüttelnder Bestseller gefeiert worden, kurz darauf verboten es die Behörden plötzlich, und seitdem verschweigen sie es. Während das Buch in China nur noch als Raubdruck zirkuliert, erhielten die beiden Autoren im Oktober 2004 den „Lettre Ulysses Weltpreis für Reportageliteratur“.

Im Mai 2006 gab Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem ersten Chinabesuch einen Empfang für Chen und Wu in der Deutschen Botschaft. Dem Verlag Zweitausendeins und dem Übersetzer Hans Peter Hoffmann, der viele hilfreiche Anmerkungen beisteuert, kommt das Verdienst zu, dieses wichtige Werk jetzt einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Es ist ein wichtiges Korrektiv zur meist überschwänglichen und auf Metropolen fokussierten China-Berichterstattung. SVEN HANSEN

Chen Guidi, Wu Chuntao: „Zur Lage der chinesischen Bauern. Eine Reportage“. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2006, 600 Seiten, 39,90 Euro