Ganz in Wörter eingehüllt

Schluss mit Leichtigkeit, Rückkehr zum Eigentlichen der Literatur? Der Suhrkamp Verlag präsentiert sich in diesem Frühjahr wieder als erste Adresse für deutschsprachiges avanciertes Schreiben. Programmatisch entdeckt werden junge Autoren mit Willen zur literarischen Gestaltung und zur Spracharbeit

Wo kollektives Innehalten den Ton angibt – passt es da nicht ins Bild, wenn die Belletristik sich so richtig auf das kunstvolle Wort einlässt?

VON ANTJE KORSMEIER

Klar, Popliteratur ist passé. Fröhliches Zelebrieren von Alltag, Tempo, Jetzt und Party reicht nicht mehr. Stattdessen erlebt die Lyrik einen ungeahnten Aufschwung, und auch in der Prosa wird Literatur offenbar wieder mit einem großen „L“ geschrieben. Ist es mit der kürzlich beschworenen Leichtigkeit deutscher Autoren so schnell schon wieder vorbei?

Am deutlichsten ist dieser Trend – wenn es denn wirklich einer ist – beim Suhrkamp Verlag zu beobachten. Der Satz „Ich bin ganz in Worte eingehüllt“ aus Ariane Breidensteins Debüt könnte das gemeinsame Motto der vier jungen Autoren sein, die der Verlag in diesem Frühjahr geschlossen präsentiert. Die Vorschau platziert Paul Brodowsky, Thomas Melle, Kevin Vennemann und Ariane Breidenstein im Hauptprogramm gleich hinter Peter Handke. Es gibt einen Hörbuch-Sampler, auf dem die vier Ausschnitte aus ihren Büchern lesen. In Leipzig werden sie bei einer Buchmessen-Veranstaltung gemeinsam auf dem Podium sitzen. Großer Einsatz also und zugleich wohl eine Ansage, wie sich der krisengebeutelte Suhrkamp Verlag positionieren möchte. Die vier Autoren, Jahrgang 1973 bis 1980, legen Bücher vor, die durch ihren Willen zur literarischen Gestaltung auffallen. Hier wird mit Sprache gearbeitet! Und oft wird die Sprache gleich selbst zum Thema.

Als Trend – im Sinne eines Phänomens, welches weitere Teile der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasst – könnte man jedenfalls versuchen, diese Bücher als Ausdruck einer neuen Ernsthaftigkeit zu begreifen: als Besinnung auf die Kunst des Schreibens statt des Konkurrierens mit Texten des Feuilletons oder gar der blitzschnellen Weblogs. Wo kollektives Innehalten, Rechenschaftslegung und die Reduktion auf das Essenzielle den gesellschaftlichen Ton angeben – vom Plädoyer für Energiesparlampen über das Lob der Disziplin bis hin zur Feier des sparsamen Autofahrers –, passt es da nicht gut ins Bild, wenn auch die Belletristik sich auf ihr vermeintlich Eigentliches konzentriert? Und sich mal wieder so richtig auf das kunstvolle Wort einlässt?

Aber: Man braucht nicht AnhängerIn der Dekonstruktion zu sein, um eine solche Bestimmung des Literarischen als Karikatur ihrer selbst zu entlarven. Der genauere Blick zeigt schnell zwei Dinge: Ein gesteigerter Einsatz sprachlicher Mittel ist nicht gleichbedeutend mit einem sprachästhetisch motivierten Verzicht auf aktuelle Fragen; und die Viererriege lässt sich sowieso schlecht über einen Kamm scheren. Auffällig ist zwar, dass sie alle konsequent den Gebrauch von Anführungszeichen bei direkter Rede vermeiden, so als seien diese der Gipfel von Biederkeit und daher absolut tabu; und auch inhaltlich überschneiden sich die Texte in Themen wie der Allgegenwart des Internet und die (dadurch geprägte) Frage eines Verhältnisses zur Welt. Spannender ist es jedoch, die Variationen und Unterschiede zu verfolgen, die sich aus solchen Überkreuzungen ergeben.

So wendet Paul Brodowsky in seiner Kurzgeschichtensammlung „Die blinde Fotografin“ exakt das gleiche Verfahren an wie Kevin Vennemann in dem Roman „Mara Kogoj“: Raffinierte Chronologien und fragmentierte Satzkonstruktionen binden unterschiedliche Erzählperspektiven, Dialoge und Beschreibungen, Rückblicke und Gegenwart ineinander ein. So wird ein Erzähltypus geschaffen, bei dem die Frage, wer spricht, beständig im Raum schwebt. Mit diesem Erzähltypus fangen die Autoren dann aber Unterschiedliches an. Brodowsky konfrontiert in der Geschichte „Aufnahme“ die Wahrnehmungen eines jungen Mannes mit der schwindenden Aufnahmefähigkeit einer erblindenden Fotografin, um Weisen des Weltzugangs nachzuspüren. Für die Erblindende werden die Dinge in den Schilderungen ihres Freundes erst dann real, wenn sich Detailtreue mit metaphorischer Überhöhung paart.

Kevin Vennemann hingegen steigert das Erzählverfahren durch verschiedene Formen von indirekter Informationsvermittlung und führt Handlungs- und Bewusstseinsebenen parallel, die sich miteinander verwirren, überlagern, widersprechen. Wie in seinem ersten, von der Kritik gut besprochenen Roman „Nahe Jedenew“ geht es auch bei „Mara Kogoj“ darum, schwierige Realitäten der jüngeren Geschichte literarisch greifbar zu machen, die gern totgeschwiegen werden – im vorliegenden Roman ist es der Konflikt zwischen heimattreuen Kärtnern und Slowenen, zwischen Geschichtsfälschung und dem Bedürfnis der Opfer nach Wahrheit.

Brodowsky und Vennemann bedienen sich einer Parallele von Form und Inhalt, um einen Mangel an Eindeutigkeit herbeizuführen und bewusst mit dem Unverständlichen zu spielen. Mit ihren Andeutungen Schritt zu halten bedeutet für die Lektüre eine besondere Anstrengung. Der in Deutschland unterschätze US-amerikanische Klassiker Henry David Thoreau war der Ansicht, dass es Bücher gibt, die man „auf Zehenspitzen“ lesen müsse. Thoreau forderte damit eine besondere Wachsamkeit der Leser ein sowie die Bereitschaft, sich einem Bedeutungsgehalt gegenüber zu öffnen, der dem flüchtigen oder auch bloß ersten Lesen entgeht. Auf solche Leser setzen die jungen Suhrkamp-Autoren. Ein anderer Ausdruck Thoreaus lautete „Lesen in einem höheren Sinn“. Das ist eine dieser Formulierungen, die nach Reinheit und Askese klingen und kulturkonservativen Ernsthaftigkeitsanhängern sicher gefielen. Doch Thoreau war alles andere als ein Bewahrer – „Ernst“ muss nicht zwangsläufig für das Althergebrachte stehen. Bei Brodowsky und Vennemann kann man sich auf die Suche nach einem neuen Ernst machen.

Wachsamkeit ist aber sicher auch hilfreich bei der Lektüre von Ariane Breidensteins Band „Und nichts an mir ist freundlich“ sowie Thomas Melles Kurzgeschichtensammlung „Raumforderung“. Allerdings besteht die Herausforderung bei diesen Autoren weniger darin, ihren grammatischen Pirouetten zu folgen, als sich gegen intensive Erzählstimmen zu behaupten. Mit ihrem Leiden an der Welt scheinen sie einen bisweilen zu erdrücken. Geistige Überspanntheit, das Ringen mit der Sprache und existenzieller Sinnverlust sind die maßgeblichen Themen beider Autoren. Doch die Fluchtpunkte der Protagonisten fallen konträr aus. Genauer betrachtet entsprechen sie dem Geschlechterklischee: Ariane Breidensteins Ich-Erzählerin ist eine Frau um die Dreißig, die mit der Unmöglichkeit von Stummheit und dem Verlangen nach Ausdruck ringt. Die Natur ist für sie ein Sehnsuchtsort der Idylle, ihr eigener Körper hingegen Schauplatz und Spiegel des unglücklichen Selbstverhältnisses. Lyrische Passagen – „in einem Luftbaum gesessen“ mit einer „Halskrause aus leuchtrandigen Blättern“ – wechseln sich mit hysterischen Steigerungen ab, die selbst beim stillen Lesen wie Kreischen klingen.

Auch Thomas Melles Protagonisten leiden intensiv und viel, aber nicht an ihrem Körper. Das scheint in der Literatur nach wie vor Frauen vorbehalten zu sein, so ärgerlich es auch ist, diese Art von plakativen Unterschieden konstatieren zu müssen. Nein, in Melles Band „Raumforderung“ (was der klinischen Bezeichnung für einen Gehirntumor entspricht) ist der Wahn intellektueller. Eine der Geschichten, „Dinosaurier in Ägypten“, handelt davon, dass der Erzähler in die geschlossene Anstalt eingeliefert wird, weil das Internet den „Krebs des Verstehens“ in ihm entfacht hat.

Melles Texte reizen weniger die Möglichkeiten der Grammatik aus als die Anwendung postmoderner Theorie im Spiel mit Performanz und Repräsentation, Spiegelung und Selbstreferenzialität. So abstrakt dies klingt, und zuweilen wirkt sein Schreiben tatsächlich verkopft: Seine Geschichten sind von den vier Autoren die eindringlichsten. Vielleicht weil Melle Humor mit der Fähigkeit kombiniert, in knappen Beschreibungen Miniaturanalysen zu liefern, wie etwa in der Geschichte „Santo Lucci“ („Peter-Marias Mund kündet von einer anderen Welt, einer Welt, in der das Bier ein Gesellschaftsgetränk ist und die Ehe ein Vertrag“). Vielleicht aber auch, weil seine Auseinandersetzung mit Sinnverlust in einer Welt, die an Text-, Zeichen- und Bedeutungsfülle erstickt, eine sehr reale Problematik von Menschen in postindustriellen Gesellschaften aufgreift. Höhepunkt des Bands ist jedenfalls die Geschichte „Wuchernde Netze“, in der der Vater des Patienten aus „Dinosaurier in Ägypten“ spricht und ein ausgefeiltes Geflecht zwischen autobiografischen und literarischen Bezüge spinnt – ganz wie Thomas Melle.

Ob die Bücher von Paul Brodowsky, Kevin Vennemann, Thomas Melle und Ariane Breidenstein nun Zeugnis einer „neuen Literarizität“ sind und ob es einen Zusammenhang zwischen ihrem Schreiben und anderen zeitgenössischen Strömungen gibt – liest man die einzelnen Bücher, nehmen sich solche Fragen auf einmal merkwürdig abgehoben und schal aus. Wesentlich konkreter ist hingegen die Vermutung, dass das Frühjahrsprogramm des Suhrkamp Verlags ernsthaft programmatisch ist, der Verlag also mit seiner Schwerpunktbildung die Rückkehr zu jenen Zeiten anstrebt, in denen er die erste Adresse für deutschsprachiges avanciertes Schreiben war.

Schön ist bei alldem, dass jüngere Autoren den Spaß am Experimentieren mit der Sprache immer wieder entdecken können – so wie offensichtlich jetzt gerade wieder. Noch schöner wäre es, wenn es ihre Ergebnisse ein bisschen weniger sperrig ausfielen. Aber Unbequemlichkeit ist natürlich ein ganz altes Privileg der Literatur.

Im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, sind bereits erschienen: Thomas Melle. „Raumforderung“. 200 Seiten, 15,90 €; sowie Kevin Vennemann: „Mara Kogoj“. 200 Seiten, 16,80 €ĽIn der kommenden Woche folgen: Ariane Breidenstein: „Und nichts an mir ist freundlich“. 130 Seiten, 14,80 €; sowie Paul Brodowsky: „Die blinde Fotografin“. 160 Seiten, 14,80 €