Revolution frisst Kinder

Die Freiheit des Web 2.O. ist keineswegs grenzenlos: Das Internetportal MySpace hat den Account der schwul-lesbischen Band Kids on TV gelöscht – ohne Gründe zu nennen

Musikrichtung: Punk-House Queercore. Bei Queercore handelt es sich um eine Mitte der 80er-Jahre entstandene, im Punk verwurzelte kulturelle und soziale Bewegung, die sich nicht nur kritisch mit der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzt, sondern auch den schwul-lesbischen Mainstream kritisiert. Heimat: Toronto, Kanada. Neue Webheimat: www.kidsontv.biz. Mitglieder: John Cafferey (Bass & Vocals); Minus Smile (Drums & Electronics & Vocals); Wolf (Guitar); Roxanne Luchak (Video & Vocals). Hits: „Breakdance Hunx“; „Bitchsy“. Nächster Auftritt: 24. März, „Club Motherfucker“, London. Nächster Auftritt in Deutschland: 18. April, K 4, Nürnberg (Mit Die Princess Die). Wer diese Band hört, hört auch: Queers without Borders, Low End Models, Rhythm King And Her Friends, Lesbians On Ecstasy. MRE

VON KLAUS RAAB

Anfang März mussten die Kids on TV feststellen, dass sie keine Freunde mehr haben. Sie hatten davon etwa 14.000, doch dann, über Nacht, waren sie alle weg: Auch das ist das Web 2.0. Die Kids on TV sind eine kanadische schwul-lesbische Band, deren Musik Boy George einmal als „Kamikaze Queer Pop – Jimmy Somerville meets the Beastie Boys“ eingeordnet hat. Es ist eine Band, die in Texten und Musik wie der Sänger Jimmy Somerville queere Kulturgeschichte verhandelt. Sie nutzte bislang das Internetportal MySpace, um sich mit Fans, Musikern und Konzertveranstaltern zu vernetzen. Seit März allerdings hat MySpace das Bandprofil gelöscht, ohne Vorwarnung und ohne die Möglichkeit, es wiederherzustellen. Seither blühen die Spekulationen: Liegt es daran, dass es sich um eine Band schwul-lesbischer Aktivisten handelt?

Basis für Mundpropaganda

Zunächst ist die Löschung für die Band ein praktisches Problem. „MySpace hat uns damit ernsthaft geschadet“, sagt John Caffery, einer der Musiker. Denn die 14.000 MySpace-Freunde der Band waren ihr größtes Kapital, die Basis für Mundpropaganda und für Auftrittsmöglichkeiten. MySpace ist eines der frühesten Portale, die von „User Generated Content“ leben, davon also, was die Nutzer hochladen. Unzählige Bands nutzen dieses Portal seit geraumer Zeit zur kostenlosen Selbstvermarktung und Vernetzung. Manche Medien hatten die „MySpace-Revolution“ ausgerufen, als die Musikbranche in der Krise steckte und über das Web plötzlich die ersten Bands zu Stars wurden: die Arctic Monkeys etwa oder die Band Clap Your Hands Say Yeah. Wenn also davon die Rede ist, dass eine Band durch das Internet auf die Bildfläche gespült wurde – und davon war zuletzt oft die Rede –, dann war meist MySpace gemeint. Die Plattform ermöglicht es Musikern, selbstverantwortlich und unabhängig zu arbeiten, ohne zwischengeschaltete Vertriebe oder Labels, und dennoch ein Publikum zu erreichen – solange sie sich an die Nutzungsbedingungen halten.

Der Fall Kids on TV aber zeigt nun: MySpace schafft neue Abhängigkeiten – nämlich die Abhängigkeit von MySpace. Die Band hat zwar längst ein neues Profil angelegt, dieselben Songs und ähnliche Bandfotos wie früher wieder hochgeladen. Aber die Veröffentlichung des Albums „Mixing Business With Pleasure“ (Chicks on Speed Records, VÖ 20.4.) und eine Tour durch Europa stehen bevor, und die Band hatte die gesamte Bewerbung der Tour über ihr Internetprofil abgewickelt. Das Netzwerk aber, um das es bei MySpace geht und mit dessen Hilfe sich die Clubs füllen sollten, ist weg. Die MySpace-Revolution frisst ihre Kinder.

Die Frage ist nur: warum die einen und nicht die anderen? Die Löschung des Profils von Kids on TV führt wegen der implizit politischen Ausrichtung der Band unweigerlich zum Zensurvorwurf. Einem Vorwurf, den sich MySpace schon im Herbst gefallen lassen musste, als auf Initiative eines Mitarbeiters des Bürgermeisters von Houston, Texas, das Profil eines Todeskandidaten aus dem Netz genommen wurde, der dort ein indirektes Plädoyer gegen die Todesstrafe abgegeben hatte.

Es kann durchaus Zufall sein, dass nun das Profil einer schwul-lesbischen Band gelöscht wurde. Denn es gibt auf der Plattform nach wie vor unzählige Profile von schwulen oder lesbischen Künstlern und Nutzern, die nicht gelöscht wurden. Jacob Bilabel von MySpace Deutschland sagt: „Wir haben sehr klare Geschäftsbedingungen, in denen steht, was auf einer Seite erscheinen darf.“ Da das Profil der Band von Mitarbeitern in der MySpace-Zentrale in den USA gelöscht wurde, wisse er nicht, was der Grund dafür sei. „Aber es gibt viele Seiten der Gay-Lesbian Community“, sagt er – was richtig ist. „Und MySpace löscht nicht einfach Seiten dieser Community.“ Der Vorwurf der offenen Homophobie, der in Internetforen anklingt, ist daher kaum haltbar – auch wenn MySpace dem konservativen Medienmogul Murdoch gehört. Eine Tatsache, auf die in den Foren gerne hingewiesen wird. „Es muss für die Löschung schon einen Grund gegeben haben“, sagt Bilabel. Er meint einen Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen.

Mittlerweile liegt auf vielfache Anfrage der Band, der taz und einiger Onlinepublikationen eine Antwort aus der MySpace-Zentrale vor, in der Ähnliches formuliert ist: „Es ist uns nicht möglich, die Gründe für die Löschung eines speziellen Profils zu nennen, aber der einzige Grund für MySpace, ein Profil zu löschen, ist eine Verletzung der Terms of Use.“ Der Raum für Spekulationen bleibt damit erhalten. „Wir sind an die Grenzen von MySpace gestoßen“, sagt Bandmitglied John Caffery. „Das Problem ist nur: Wir wissen nicht, wo die überhaupt liegen. Denn es ist einfach nicht möglich, mit diesem riesigen Kommunikationsportal ernsthaft zu kommunizieren.“

Die Geschäftsbedingungen von MySpace verbieten neben vielem, was als Grund für die Löschung aber kaum in Frage kommt, sexuell konnotierte Fotos, Nacktheit und pornografische Inhalte. „Natürlich ist der offene Umgang mit dem Körper Teil unserer Botschaft“, sagt Caffery. „Aber unsere Fotos waren weit entfernt davon, pornografisch zu sein“, sagt er. „Wir haben unsere Seite gezielt PG-13 gestaltet“, also frei ab 13 – und nur MySpace selbst könnte diese Behauptung widerlegen. Die Fotos, die auf dem neuen MySpace-Profil der Band zu sehen sind, zeigen die männlichen Mitglieder der Band mit nackten Oberkörpern, auch mal in Unterhosen, aber nie nackt. Caffery sagt: „Wir glauben, dass, obwohl wir nach den Regeln gespielt haben, der Sexualitätsdiskurs, den wir in unseren Texten aufgreifen, zu viel für MySpace war.“ Sie haben Texte über den Hanky-Code geschrieben („Hanky Code“), den Taschentuchcode der schwulen Community. Oder einen Song über den Marktwert von Männerkörpern („Breakdance Hunx“). Doch beide Songs sind Popmusik, keine sachlichen Ratgeber und nicht zwangsläufig affirmativ gemeint. Sie spielen mit Klischees und setzen sich mit der Beurteilung eines Körpers als Ware kritisch auseinander, auch mit der ganzen schwul-lesbischen Community.

Schwul-lesbischer „Schmutz“

Vielleicht ist die Löschung des Accounts der Kids on TV also auch kein Zufall. Es ist denkbar, dass der Zeigefinger eines MySpace-Mitarbeiters, der die Seite kontrollierte, schneller als üblich über dem Löschknopf in Zuckungen versetzt wurde, als er das Wort „Cockwolves“ las. Denn der Gedanke, schwul-lesbischen Aktivisten würde schneller Morallosigkeit und Schmutzigkeit unterstellt als freizügigen heterosexuellen Musikern, ist weniger leicht aus der Welt zu räumen als der Vorwurf offener Homophobie. Zum Beispiel der Rapper Mickey Avalon: Er kreuzt der Fäkalsprache entliehene Reime mit dem neu gewendeten Hiphopkonzept der männlichen Bitch – nicht des Zuhälters. Auf kaum einem Foto ist er vollständig bekleidet, er rappt über Dicks und noch einmal Dicks. Das steht bei ihm in einem künstlerischen Gesamtzusammenhang. Das trifft allerdings auch auf die Inhalte der Kids on TV zu. Doch Mickey Avalons Debütalbum ist nun sogar bei MySpace Records erschienen, der Plattenfirma des Portals. Die Seite der Kids on TV dagegen wurde gelöscht. Auch Pornowerbung gebe es auf MySpace, was die Band kritisiert und mit einem simplen „Ironic!“ kommentiert. Thomas Lechner, der Chef der deutschen Konzertagentur Queerbeat, die Konzerte von Kids on TV veranstaltet, sagt: „Ein gewisser Umgang mit Sex ist geduldet und sogar gewollt, wenn man damit Geld verdienen kann. Ein anderer Umgang wird nicht einmal mit einer gewissen Toleranz behandelt.“ Und diesen Vorwurf zu widerlegen dürfte sich MySpace schwertun.

Die Kids on TV weisen zudem auf eine weitere Seite hin, die sie seit der Löschung ihres Profils mitbetreiben: www.myspace.com/myspaceprofiledeletions. Die Seite befasst sich mit Zensur bei MySpace, und viele der MySpace-Nutzer, die sich als Betroffene zurückgemeldet haben, sind selbst schwul-lesbische Künstler. „Das kann daran liegen, dass wir vor allem mit vielen schwulen Künstlern über MySpace in Verbindung stehen (besser: standen)“, schreibt die Band. „Aber das erklärt nicht das sich wiederholende Muster.“ Die Kids on TV gehen daher nun in die Offensive und fordern, „dass in den Nutzungsbedingungen die Wendung „sexuell konnotierte Fotos“ klarer formuliert wird – sie ist vage genug, um alles bedeuten zu können.“ Sie wollen so die von ihnen vermutete Willkür beim Löschen von Profilen, vor allem schwul-lesbischer Profile, stoppen. So könnte Kids on TV doch noch zur nächsten MySpace-Band werden: zu der Band, die eine kritischere Haltung gegenüber MySpace angeregt hat.