Denn sie wissen nicht, was sie tun

„Alpha Dog – Tödliche Freundschaft“ von Nick Cassavetes zeichnet das Soziogramm von mordenden Teenagern

Tatsächlich geschehene Kriminalfälle üben immer eine viel größere Faszination aus als die von Autoren ausgedachten. Über Jack the Ripper sind inzwischen Tausende von Büchern geschrieben worden, und Truman Capote hat mit „Kaltblütig“ eine ganzes Genre geschaffen, für das in amerikanischen Buchläden inzwischen die eigene Abteilung „true crime“ eingerichtete wurde. Zum einen gibt dabei das Wissen darum, dass das Geschilderte wirklich passierte, diesen Erzählungen einen eigenen Thrill, zum anderen überrascht es immer wieder, wie unplausibel und grotesk doch die Realität sein kann.

Welchen Leser würde es etwa bei einem Krimi nicht irritieren, wenn darin beschrieben stände, wie ein gekidnappter Jugendlicher fröhlich mit seinen Entführern Partys feiert, zahlreiche Möglichkeiten zur Flucht, auf die ihn einzelne Entführer extra hinweisen, nicht wahrnimmt und wie Dutzende von unbeteiligten Mitfeiernden um die Situation des späteren Mordopfers wissen, aber nicht einer von ihnen die Polizei ruft? Genau dies geschah im August des Jahres 2000 im San Fernando Valley, wo ein junger Drogendealer mit dem Namen Jesse James Hollywood (!) einen Gleichaltrigen, der ihm Geld schuldete, unter Druck setzten wollte, indem er dessen fünfzehnjährigen Halbbruder auf der offenen Straße verschleppte und zusammen mit drei Komplizen später umbrachte. Während seine Mittäter schnell gefasst und verurteilt wurden, floh er und war jahrelang einer der jüngsten Männer auf der „most wanted“ – Liste des FBI.

Der Regisseur Nick Cassavetes, begann mit den Dreharbeiten noch während der Haupttäter auf der Flucht war. Er wurde sogar vom FBI und der Staatsanwaltschaft unterstützt, die ihm trotz des noch schwebenden Verfahrens Akteneinsicht gewährten, weil sie darauf spekulierten, dass die so entstehende öffentliche Aufmerksamkeit den Druck auf den Flüchtigen erhöhen würde. Genau dies passierte dann auch, und Jesse James Hollywood wurde 2005 in Brasilien verhaftet. Deshalb musste Cassavetes für seinen schon fertigen Film eine neue Schlussszene drehen, aber viel gravierendere Schwierigkeiten hatte er mit den Anwälten des nun Angeklagten, die argumentierten, dass der Film einen fairen Prozesse unmöglich machen würde. Nach mehreren Verhandlungen durfte „Alpha Dog“ Anfang 2007 in den USA anlaufen, und ist dort höchst umstritten – und dies nicht nur aus juristischen Gründen.

Denn Nick Cassavetes rekonstruiert die Geschehnisse in einem Stil, der durch seine Ambivalenz provoziert. Er zeichnet ein genaues Bild des Lebensstils von Jugendlichen im heutigen Südkalifornien, und dabei ist es manchmal ist es schwer zu beurteilen, ob er diesen nun so authentisch wie nur möglich darstellt, oder spekulativ auf den voyeuristischen Blick des Publikums hin inszeniert. Aber mehr und mehr zwingt der Film zu einem genaueren Schauen, bei dem klar wird, dass alle nur aus den Medien abgeleitete Attitüden vorführen. Dahinter verbirgt sich ein erschreckendes moralisches Vakuum. Stilistisch betont Cassavetes seine semidokumentarische Methode dadurch, dass er in Zwischentiteln genaue Raum und Zeitangaben liefert und Passanten als die Zeugen beim späteren Prozesse durchnumeriert. Mit Bruce Willis, Sharon Stone und Harry Dean Stanton ist der kleine Film erstaunlich prominent besetzt. Die Entdeckung des Film ist aber der Popstar Justin Timberlake, der als einer der Täter zu den glaubwürdigsten und intensivsten Darstellern zählt.Wilfried Hippen