Unsolide Romantiker

„Hamburger Hochbahn“: Mit seinem Debüt hat Ulf Erdmann Ziegler den bundesrepublikanischen Zeitroman der Achtzigerjahre geschrieben

VON STEPHAN WACKWITZ

Ulf Erdmann Ziegler hat sich unter Leuten, die auf derlei Wert legen, einen Namen gemacht als Verfasser von Katalogtexten, Ausstellungskritiken, Buch- und CD-Besprechungen, deren gedankliche Qualität und stilistische Gediegenheit den ephemeren Anlass jedes Mal zuverlässig weit hinter sich ließ. Vergleichbar vielleicht allenfalls mit dem Münchner Filmkritiker Helmut Färber (der 1994 dann aber wenigstens mit dem Petrarca-Preis geehrt wurde), legt Ziegler seit Beginn der Neunzigerjahre ein – auch literarisch – bedeutendes Oeuvre vor, das ganz aus Tagesformen besteht und mit den Gattungen, Ritualen, Preisen und Karrieren des Literaturbetriebs gar nichts im Sinn zu haben schien.

Wer Zieglers Arbeit über die Jahre verfolgt hatte, für den war es deshalb fast so etwas wie eine Sensation, dass er nun mit „Hamburger Hochbahn“ ein Exemplar der Zentralform und Leitgattung dieses Betriebs vorlegt, einen realistisch erzählten bundesrepublikanischen Zeitroman.

Es sind die späten Siebziger- und die Achtzigerjahre, die Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959, uns vorführt, eine Achsenzeit des Umschlags von gesellschaftskritisch gemeinter (in Wirklichkeit nur provinzieller) Halbverwahrlosung der Lebenswelt zu einer neuen Welthaltigkeit und Normalität des Landes. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass dieser bundesrepublikanische Zeitroman zu einem wichtigen Teil in Amerika spielt. Und es ist ebenso folgerichtig, dass man „Hamburger Hochbahn“ als einen „Roman der Arbeitswelt“ beschreiben könnte. Einen freilich nicht von der Art, wie ihn der rote Großvater zu erzählen versucht hatte. Sondern insofern, als ein bestimmtes Berufsmilieu, das der Architekten (mit den Anschlussfeldern Kunst und Design), aus solider Kenntnis heraus detailliert beschrieben wird. Was anderes als die Arbeit hat uns aus den verblasenen Siebzigern in die realistischen Achtziger führen können und aus der ewigen Vorlust der Studentenboheme in die soliden Jobs und Familien?

Die freilich, auch das zeigt Ulf Erdmann Ziegler, solide nicht mehr in der Art sind, wie die Elterngeneration Solidität im Familien- und Berufsleben bestimmt hat. Vielmehr fluktuierend und brüchig. Aber dann, und das könnte man als utopisches Moment in Zieglers Erzählen bestimmen, geht es immer wieder weiter. Seine Figuren geben nicht auf. Sie fangen immer wieder von vorne an. Das ist ihre Art der Romantik. Aber auch so werden Kinder groß und selbständig, auch so werden solide Häuser gebaut, wird Unterhalt verdient und Vermögen erworben, ein Ruf begründet und Liebe gemacht. Auch auf diese provisorische, experimentelle, oft ein bisschen lächerliche Art der Vergesellschaftung (wir haben uns längst an sie gewöhnt als an das Normale und Erwartbare) wird hergestellt, was dem Leben Solidität verleiht.

Walter Benjamin hat irgendwo geschrieben, Kunstwerke überdauerten die Zeit aufgrund und mithilfe ihres Sachgehalts. Im Sinn dieses Bonmots lässt es für die staying power von „Hamburger Hochbahn“ stark hoffen, dass man aus den Beschreibungen dieses Romans ganze Interieurs aus der erzählten Zeit lückenlos rekonstruieren könnte. Die Erzählhaltung des Buches ist beeinflusst vom Programm der von Michael Rutschky redigierten Zeitschrift Der Alltag, die ein paar heute schon fast legendäre Jahrgänge lang den „Abenteuerurlaub auf Nachbars Balkon“ zum Arbeitsprogramm erhoben hatte (und zugleich so etwas wie eine informelle Ausbildungsinstitution für viele heute erfolgreiche Schriftsteller, Essayisten und Journalisten geworden ist). Konsequent deshalb auch, dass Ziegler auf die heute gängigen Muster und Klischees der „spannenden Handlung“ verzichtet hat, die viele neue Bücher so verwechselbar machen.

Der Roman handelt ausweislich des Klappentexts von nichts Aufregenderem als „von Flüssen und Städten, von Zünften und von Künsten, Konkurrenz und Eifersucht, von Liebe zu zweit und Liebe zu dritt. Er erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die in einer kleinen Stadt ihren Anfang hat und in einer Großstadt endet, wie so viele andere Geschichten auch.“

Womit ein Übergang geschaffen wäre für das Lob dessen, was man an diesem Buch gar nicht genügend loben und rühmen kann. Es erzeugt einen unwiderstehlichen Sog nicht dadurch, was erzählt wird, sondern dadurch, wie Ziegler es tut. Dieser Schriftsteller hat einen Blick, einen Zugriff und ein handwerkliches Repertoire, das ihm offenbar keinen uninteressanten Satz hinzuschreiben, keinen schiefen Abschnitt zu bauen und kein flaues Kapitel zu weben erlaubt. „Hamburger Hochbahn“ ist von einer stilistischen Durchgearbeitetheit, wie sie in der Gegenwartsliteratur eigentlich ohne Beispiel ist.

Nicht nur die Satzgefüge sind so originell wie unmittelbar einleuchtend. Auch die Machart ganzer Kapitel (oft lassen sie fast Nouveau-Roman-artig ausführliche Beschreibungen auf überraschende kleine Sinnsprüche, Denkbilder oder Mini-Kopfkinoszenen hinauslaufen) lässt einen beim Lesen und Weiterlesen nie das sichere Gefühl verlieren, dass man sich in die Werkstatt eines wirklichen Sprachmeisters verirrt hat. Details funkeln wie endlos poliert und bis zu Ende durchgestaltet.

Ulf Erdmann Ziegler ist einer der wenigen Schriftsteller, die für die Erzeugung des inneren Luftzugs, der durch jedes Buch geht, das man zu Ende liest, nicht auf filmische oder naturalistische Hilfsmittel und Muster zurückgreifen müssen. Allein seine Sprach- und Beschreibungskunst trägt einen durch mehr als 300 Seiten. Und erst im Rückblick merkt man, dass sich die Lebensläufe, Gegenstände, Milieus und Figuren, von denen mit so großer Kunst erzählt worden ist, zu lebendigen und unvergesslichen Eindrücken zusammengefügt haben und mit den eigenen, plötzlich wiederaufgetauchten Erinnerungen an die bundesrepublikanischen Flegeljahre zusammengeflossen sind.

Ulf Erdmann Ziegler: „Hamburger Hochbahn“. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 330 Seiten, 19,90 Euro