„Die Gleichheit ist ein Ideal, nach dem wir streben sollten“

Der Pariser Autor Gérard Mordillat ist der Ansicht, dass Europa keine Reform, sondern eine Revolution, einen Aufstand der Ideen braucht

Der Pariser Romancier und Dokumentarfilmer GÉRARD MORDILLAT (Jg. 1949) unterstützte die Nein-Kampagne im Referendum über die EU-Verfassung. Sein Thema: die „kleinen“ Leute des Pariser Ostens.

Saint Just, dem großen französischen Revolutionär, verdanken wir den Satz, der als Inschrift bei allen Demonstrationen erscheinen sollte: „Das Glück ist eine neue Idee in Europa“. Es scheint heute unangemessen, das „Glück“ und „Europa“ miteinander zu verbinden, so als ob die europäische Konstruktion ein für alle mal auf die Idee verzichtet hätte, dass Frieden und Wohlstand zu sichern, ihr dauerhaftes Ziel sein sollte. Die Väter Europas kündigten das Glück an, gekommen jedoch ist der Markt. Das heißt das Prinzip der freien Konkurrenz zwischen Personen, Betrieben, Staaten ...

Der französische Staat hat sich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf seinen Fahne geschrieben. Wenn die Idee der „Freiheit“ leicht von allen Europäern beansprucht werden kann, wenn der Begriff „Brüderlichkeit“ ihnen nicht total fremd ist, so existiert die „Gleichheit“ nicht mehr im Bewusstsein - schlimmer noch, sie wird mit dem Totalitarismus in seiner schlechtesten Form verbunden. Jedoch, in Frankreich wie auch anderswo in Europa, ist es gerade die Gleichheit, die heute in Gefahr ist. Wohin wir auch Tag für Tag schauen, die Armen werden ärmer und die Reichen reicher.

Robespierre, ein anderer großer französischer Revolutionär, verkündete am 2. Dezember 1792: „Was ist das Objekt der Gesellschaft? Das ist die Aufrechterhaltung der unantastbaren Rechte des Menschen. Welches ist das erste dieser Rechte? Dasjenige, zu existieren. Das erste soziale Gesetz ist also jenes, das allen seinen Mitgliedern die Mittel garantiert, zu existieren.“

Zu existieren ist kein Recht, es ist eine Tatsache. Der Mensch existiert, aber die Bedingungen seiner Existenz werden bestimmt von der Gesellschaft, in der er lebt; er ist gleichzeitig Akteur und Produkt dieser Gesellschaft. Dem Menschen zuzugestehen, als Mensch sowie als Bürger, Rechte zu haben, bedeutet vor allem, ihm das Recht zuzugestehen, Rechte zu haben. Gleiche Rechte für seinesgleichen.

Nun wird in der Gesellschaft, in der wir leben, das Recht, Rechte zu haben, jeden Tag von allen reaktionären Kräften und dem Unternehmertum bekämpft. Die Zahl der Rechtlosen in allen unseren Ländern nimmt rapide zu; seien sie nun ohne Papiere, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Arbeit, ohne Wohnung... Unfähig seinen Rechten zur Anerkennung und Akzeptanz zu verhelfen und sie zu seinen Gunsten anzuwenden, hat dieses Individuum kein Recht mehr zu existieren. Es ist, aber existiert nicht.

Als er seinen widerwärtigen Ausdruck „Frankreich von unten“ verwendete, hat der frühere französische Regierungschef Jean-Pierre Raffarin diesen Bruch mit dem Gleichheitsprinzip bestätigt. Sah er sich selbst doch als „Frankreich von oben“, herablassend hinabgeneigt in Richtung des Bodens, zu jenen, die seiner Klasse, seinem Clan und seiner Partei fremd sind...

Er hätte genauso gut sagen können „Europa von unten“ und „Europa von oben“. Hat man erst einmal mit dem Prinzip der Gleichheit aller Bürger gebrochen, die Idee einer höheren und einer tieferen sozialen Realität geboren, die Vermehrung von Ungerechtigkeiten als natürlich und unvermeidlich akzeptiert - was sieht man dann? Die Nächstenliebe schafft die Gleichheit ab.

Die Nächstenliebe ist ein religiöser Begriff. Er kommt sowohl in der jüdischen, in der christlichen wie auch in der muslimischen Tradition vor. Die Idee der „Nächstenliebe“ hat das religiöse Feld verlassen, um sich auf auf dem politischen zu verankern. Der Neoliberalismus, der Gleichheit im Namen Gottes ablehnt, leistet sich reichlich Nachsicht im Namen der Nächstenliebe. Oder anders gesagt: das Politische benutzt den religiösen Kanal, um sich bestimmter Aufgaben, die ihm obliegen, zu entledigen und produziert dabei ein verführerisches Bild, das die Realität seines Handelns verschleiert.

Es genügt, die Zeitungen aufzuschlagen oder sich einfach umzuschauen, um zu bemerken, wozu das sukzessive Zurückziehen der Staaten, das Europa der Händler führt: das soziale Gesetz, von dem Robespierre gesprochen hat, wird verächtlich gemacht, stigmatisiert und als überflüssig und überholt abgetan. Weil es aber nötig ist - und sei es nur im Namen der Aufrechterhaltung eines zivilen Friedens - den Bürgern ein Minimum an Mitteln zu garantieren, hat die Praxis einer Nächstenliebe im großen Maßstab Stück für Stück Platz gegriffen und die Nation und den Staat ersetzt.

Allerdings darf man nicht das Symptom mit der Krankheit verwechseln. Der liberalen Ideologie, auf deren Grundlage das Projekt des Verfassungsvertrages erstellt worden war und die sich offen dazu bekennt, dass die Gesellschaft nicht existiert und es nur das Individuum und die Familie gibt, möchte ich die Idee eines Existenzrechtes als eines unantastbaren Rechts, das vom Gesetz garantiert ist, entgegensetzen. Ich bin nicht naiv, diese Gleichheit ist ein Ideal, nach dem wir streben sollen. Kein Einschnitt für alle oder eine totalitäre Utopie.

Europa braucht keine Reformen, es braucht eine Revolution, einen Aufstand der Ideen, der Gewissen, im Namen der Gerechtigkeit und der Gleichheit, bevor andere, viel blutigere Aufstände ausbrechen, sobald die Nächstenliebe die Verheerungen des Marktes nicht mehr abfedern kann. Sie sagen mir, dass ich träume, dass das nur Wahnsinn ist, Unvernunft - jedoch Pech für mich oder sogar noch besser: ich glaube an die Macht des fähigen Traums, bis hin zur Unvernunft, die Welt zu verändern. GÉRARD MORDILLAT

Übersetzung: Barbara Oertel