Die Böhmischen Dörfer von Neukölln

Die Böhmischen Glaubensbrüder empfing der preußische König vor 270 Jahren in Rixdorf mit offenen Armen. Ganz anders der Wind, der den Zuwanderern Neukölln heute dort ins Gesicht bläst – das Experiment eines Vergleichs

Das Böhmische Dorf in Neukölln ist ein Beispiel gelungener Integration von Glaubensflüchtlingen in einem der Religionsfreiheit verpflichteten Staatswesen. Allerdings ist das schon 270 Jahre her. Anlässlich des Jubiläums wagte die deutsche Comenius-Gesellschaft zusammen mit dem Förderkreis Böhmisches Dorf und der Evangelischen Brüdergemeinde nun ein Experiment: Sie skizzierten die heutige Situation in Neukölln, wo es Kieze gibt, die bald mehrheitlich von Menschen muslimischen Glaubens bewohnt werden, und wollten wissen, ob die Integration dieser muslimischen Mehrheit in einem säkularen Staat unter heutigen Bedingungen wieder gelingen wird? Um es gleich zu sagen: Eine Antwort fanden sie zwar nicht, aber sie stellten die richtige Frage.

Vor 270 Jahren siedelte Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. böhmische Glaubensflüchtlinge in Rixdorf an, die zur 1457 in Böhmen gegründeten alten Brüder-Unität gehörten. Diese Religionsgemeinschaft hatte sich von der päpstlichen Kirche losgesagt und verlangte eine konsequente Trennung von Kirche und Staat.

Johann Amos Comenius – Pädagoge, Philosoph, Vordenker demokratischer Staatssysteme – ist der bedeutendste Kopf der Brüder-Unität, die heute Enklaven auf der ganzen Welt hat. Comenius zu Ehren wurde in Neukölln ein Garten angelegt, der dessen pädagogische Konzepte in der Gestaltung widerspiegelt.

Friedrich Wilhelm I. war ein Verfechter der Religionsfreiheit. Er würde auch für Muslime Moscheen bauen, soll er gesagt haben. Sein Altruismus war dabei mit Kalkül gepaart: Er suchte nach Wegen, die Hauptstadt Preußens, die damals etwa 100.000 BewohnerInnen zählte, auszubauen. Die böhmischen Glaubensflüchtlinge jedenfalls wurden von ihm mit offenen Armen empfangen. Sie bekamen nicht nur das Land zur Bewirtschaftung gestellt, sondern auch die Bauernhöfe und eine Rundkirche dazu. Es ist eine beispielhafte Geschichte der Zuwanderung.

Heute leben rund ums Böhmische Dorf wieder mehrheitlich MigrantInnen. Ein Großteil von ihnen ist muslimischen Glaubens. Hinzu kommt, wie Henning Vierck, der Leiter des Comeniusgartens betont, dass nahezu die Hälfte der Bevölkerung im Kiez keinen deutschen Pass hat. Dies seien keine guten Voraussetzungen für Integration. Die immer deutlicher werden Probleme an Schulen zeigten dies.

In der Einladung zum Rixdorfer Religionsgespräch, mit dem die Jubiläen im Böhmischen Dorf begangen wurden, stellt Vierck deshalb programmatisch fest, dass es in diesem Quartier bald zu einer flächendeckenden Konsolidierung des Islam kommen werde. Da dieser in einer Situation der sozialen Ausgrenzung identitätsstiftend sei, müsse dies für die säkulare Gesellschaft der Bundesrepublik Anlass sein, sich in einer neuen Qualität mit religiösen Themen zu beschäftigen, meint Vierck. „War das Menschenrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit bisher geprägt von der Verträglichkeit des christlichen Glaubens mit der europäischen Aufklärung, so muss es heute im Zusammenleben mit islamischen Gemeinschaften neu erworben werden.“ Das ist provokant formuliert.

Die Diskussion allerdings versteifte sich auf bekannte Allgemeinplätze. Es gebe keine homogenen Gesellschaften, war eine davon. Die Verfassung schütze das Recht, verschieden zu sein, eine andere. Bezogen auf Neukölln gab es die konkrete Forderung, dass man die Zukunft des Stadtteils nicht davon abhängig machen könne, wie viele Muslime hier wohnen, sondern wie in Bildung und Ausbildung der Jugendlichen investiert wird. Für diese Erkenntnis hätte es keines Religionsgesprächs bedurft.

WALTRAUD SCHWAB