Das stumme Aufblitzen des Außen

Überfälle in Granada am helllichten Tag: Das war gestern. In den Großstädten des neuen Europa sinkt die Kriminalität. Trotzdem fürchtet sich die Mittelschicht mehr denn je. Die gefühlte Sicherheitslage im Stadtraum ist grundlegend verschoben

Es geht um mehr als ums eigene Überleben, um privates Glück in der häuslichen Festung, um mehr als um individuelle Lösungen

VON MARK TERKESSIDIS

Vor zwanzig Jahren konnte eine Tour mit dem Peugeot 104 durch Spanien noch eine richtig aufregende Sache werden. Erster Stein durch die Scheibe nachts in Valencia, der zweite in Granada. Elegantere Einstiege ohne Glasbruch gab es in Segovia und Barcelona – am helllichten Tage. Gleiches konnte einem aber auch in Frankreich passieren. Selbst wenn drei Jungs bei einem Paristrip aus Geldmangel im Auto schliefen, dann gab es noch Typen, die nicht davor zurückschreckten, eine Jacke zu entwenden, die sich auf der hinteren Ablage befand. Auch Raubüberfälle kamen in europäischen Städten deutlich häufiger vor. In der Phase nach Francos Tod und vor der Komplettsanierung der Innenstadt im Rahmen der Olympischen Spiele war beispielsweise Barcelona ein richtig heißes Pflaster. Die damals dort lebenden „Internationalen“ konnten alle mit Geschichten aufwarten, bei denen böse Jungs mit Messern sie um ihre Uhren oder Portemonnaies erleichtert hatten.

Heute sind solche Gefahren aus den europäischen Innenstädten weitgehend verschwunden. Ob Barcelona, Neapel oder Amsterdam – die Innenstädte sind im Großen und Ganzen „bereinigt“ von allen Elementen, die für Irritationen sorgen könnten. Noch nie war es leichter, sich irgendwo zwischen einem Kurztrip per Billigflieger und einem längeren Aufenthalt als Erasmusstudent oder „Expat“ eines großen Unternehmens in den Städten Europas zurechtzufinden. Abgesehen von sprachlichen Unterschieden ähnelt sich das Gewebe der urbanen Infrastruktur unterdessen stark: Die gleichen Kaufhausketten, die gleichen Werbetafeln, eine vertraute Anordnung von Sehenswürdigkeiten, aber auch von cool Places. Ein Guide des Magazins Wallpaper listet die relevanten Orte auf und schafft eine Kontinuität des urbanen Raums in Europa: Das In-Lokal in Lissabon liegt möglicherweise geografisch nicht in der Nähe eines In-Lokals in Köln, doch was Einrichtung, Essen, Umgangsformen und Leute betrifft, befinden sich diese Lokale zweifellos in unmittelbarer Nachbarschaft.

Es ist durchaus erfreulich, dass man – und das zeigen ja auch die Statistiken – heutzutage deutlich weniger beraubt wird. Allerdings führt das geringere Risiko nicht zu einem subjektiven Plus an Sicherheit: Die Furcht vor Kriminalität hat auf ganzer Linie zugenommen. In der Mittelschicht regiert – das zeigen wiederum alle Befragungen – eine unverhältnismäßige Angst. Nun wird gerne behauptet, dass darin eine Art Verschiebung zum Ausdruck komme: Eigentlich sorge sich die Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg, und diese Angst werde projiziert auf Kriminalität. Das könnte ein Grund sein, aber de facto schmilzt die Mittelschicht keineswegs so rapide, wie oft, zumal in den Medien, suggeriert wird. Die Medien sprechen ohnehin ununterbrochen von der Gefahr. Berichte über Massenentlassungen, tatsächliche und bevorstehende Katastrophen, politische Gewalttaten und Verbrechen verbreiten Terror, den Terror der Existenzangst. Die Gefahr wird dabei zum Gespenst, das ständig durch das eigene Leben geistert. Es könnte eine Bombe explodieren, ich könnte meinen Job verlieren, ich könnte der Belastung nicht mehr gewachsen sein.

Tatsächlich verbreitet sich das Gefühl, die Normalität sei abhanden gekommen. Kein Weg scheint mehr vorgezeichnet fürs Leben; ununterbrochen gilt es, Entscheidungen zu treffen; unklar ist, welchem Vorbild man folgen soll. Der kritische Blick gilt dem Leben der Anderen, ob deren Existenz nicht erfüllter ist als die eigene – Zufriedenheit ist nur relativ. Die Normalität wird mehrheitlich nicht als gegeben erlebt, sie muss von den Individuen selbst hergestellt werden. Daher ist die unverhältnismäßige Angst, die umgeht, eine Angst vor dem Verlust von Kontrolle.

Ob Schüler sich heute, wie man in Artikeln über „Problem“- Schulen oder -Viertel liest, wirklich gegenseitig als „Opfer“ beschimpfen, sei mal dahin gestellt, aber symptomatisch ist die Verbreitung der Geschichte allemal, denn „Opfer“ werden ist offenbar der schlimmste denkbare Zustand: Nicht der Pilot im eigenen Leben sein, nicht der Souverän der eigenen Normalität, sondern abhängig, alimentiert, verwaltet. Das Schlimmste ist es, wenn die eigene Situation nur noch mit dem Namen eines anderen und einer Nummer gekennzeichnet wird: Hartz IV.

In den 1970er-Jahren dagegen war das Leben deutlich gefährlicher und die Angst geringer. Damals gab es noch eine als allgemein verbindlich empfundene Normalität, die zudem als einschnürend erlebt wurde. Gerade die kreativsten Köpfe befanden sich auf der Suche nach Gefahr und Unsicherheit. Die Reise sollte ins Unbekannte führen, in ein offenes Gelände jenseits der ausgelatschten Pfade. Einige Jahre später war dieser Wunsch allgemein geworden: Keine Party in einer Kleinstadt, in der nicht am späten Abend die schweren Zungen davon lallten, wie schön es wäre, auch einmal einige Zeit „auszusteigen“. Auf dem „Trail“ der Hippies lagen damals auch Kabul und Bagdad als Außenposten der Fremdheit. Selbstverständlich war zu jener Zeit auch Griechenland noch fremd genug, aber am Hindukusch schien die Freiheit grenzenlos. Mittlerweile sind die Westler dort nur noch als Soldaten oder Angestellte von Hilfsorganisationen, denn dort wird, wie der ehemalige Verteidigungsminister Struck meinte, heute „unsere“ Sicherheit verteidigt.

Die Freiheitssucher in der Fremde haben sich in die Verteidiger einer Freiheit verwandelt, die nur noch zu Hause gelebt werden kann. In Afghanistan gibt es heute mehr Gefahr denn je, aber es ist eine Gefahr, der man sich nur noch bewaffnet stellen kann. Außerhalb der Normalität, die wir selbst herzustellen vermögen, liegt eine Zone der Unsicherheit, die in keinen „Trail“ mehr passt: mit No Go ist alles gesagt. Ganze Landstriche liegen einfach im Außerhalb, in einer Art Jenseits, in dem nicht einmal mehr die rudimentärste Infrastruktur existiert: Der Pfad ist unterbrochen.

Manchmal tauchen die Opfer und die Anzeichen von No Go auch in den Komfortzonen auf. Zum Beispiel, wenn die Kirche sich dazu entschließt, in der Kölner Innenstadt, nahe den loungigen Tempeln des oberen Massenkonsums in der Mittelstraße, ein Abendessen an Bedürftige zu verteilen. Lange Schlangen von Menschen bilden sich, um ein paar aus einem Fenster gereichte Scheiben Brot entgegenzunehmen – der ganz überwiegende Teil der Personen ist deutlich über 60. Für einen kurzen Augenblick wird reale Armut sichtbar, die sonst sowohl die Armen als auch die Begüterten zu verbergen suchen. No Go wiederum vermitteln etwa die jüngst epidemisch auftretenden Schlaglöcher in den Städten Nordrhein-Westfalens. Früher hatten die Kommunen genügend Geld, um die kleinen Risse zu reparieren, die Wasser eindringen lassen und die bald dafür sorgen, dass die Straße aufplatzt – heute nicht mehr.

Doch wie begegnet man diesem stummen Aufblitzen des Außerhalb? Wie umgehen mit echter Existenzbedrohung und der Vernachlässigung des kollektiven Besitzes? Zur Zeit wird solchen Anblicken mit individueller Aufrüstung begegnet. Man besorgt sich noch eine Lebensversicherung, um dem Absturz vorzubeugen. Oder man erwirbt einen Four-Wheel-Drive mit riesigen Reifen, um die Schlaglöcher des „urbanen Dschungels“, wie es in der Werbung heißt, ohne Probleme überfahren zu können. Man versucht also, zu überleben, so gut es eben geht – allein oder mit seiner Familie. Die Frage allerdings ist, wann und ob überhaupt die Katastrophe des Kontrollverlustes überhaupt einmal einritt. Von Abstieg und Gewalt bedroht sind letztlich jene, die immer schon bedroht waren – für die Mittelschicht ist das Risiko zwar theoretisch vorhanden, aber hochgradig phantasmatisch. Aber selbst wenn der Terror einmal das eigene Leben erreichen würde, wenn also etwa tatsächlich eine Bombe explodierte im Regionalexpress zwischen Aachen und Hamm, dann würde das Ereignis nur für Momente beweisen, dass die Bedrohung existiert.

Irgendwann, so könnte man mutmaßen, wird die Furcht selbst öde. Nicht mehr der Terrorismus oder der angeblich ununterbrochen drohende Jobverlust, sondern die Angst wird dann möglicherweise als der eigentliche Terror empfunden. Vielleicht ist das auch der Moment, in dem man beginnt, die Gespenster der Unsicherheit in ihrer geisterhaften Machtlosigkeit zu sehen. Und den Blick auf die Zukunft zu richten, auf die gemeinsame Zukunft, anstatt sich zusätzlich an den ebenfalls unkörperlichen Bedrohungen der Vergangenheit abzuarbeiten, der Zeit des Nationalsozialismus oder der Zeit der RAF.

„Leben heißt, den Gürtel enger schnallen und Ärger suchen“, meinte Anthony Quinn mal in einer der wenigen guten Szenen des Films „Alexis Sorbas“. Tatsächlich ist ständige Angst erbärmlich und lähmend. Es geht um mehr als ums eigene Überleben, um privates Glück in der häuslichen Festung, um mehr als um individuelle Lösungen für Armut und Schlaglöcher. Erst wenn man den Terror der Furcht als Beschneidung der eigenen Lebensmöglichkeiten begreift und sich der Gefahr stellt, dann hat man die Freiheit der Wahl und die Möglichkeit zur Veränderung. Dann küsst man die Zukunft.