Rufe aus der Arktis

In der Tradition des sozialkritischen Realismus verhandelt die Ausstellung „Cape Farewell – Kunst und Klimawandel“ in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg die kulturellen Aspekte der Erderwärmung

VON MART-JAN KNOCHE

Ein neuer Mensch muss geboren werden: Das Postulat avantgardistischer Kunst, gestern noch im breiten gesellschaftlichen Konsens als obsolet bestaunt und bespöttelt, beseelt heute den Geist eines internationalen politischen Diskurses. Die Utopie von einem neuen Bewusstsein ist zum offiziellen Ziel erkoren worden. Durch Klimaberichte verwandelt, wird die eben noch halbheile Wirklichkeit zur Dystopia à la George Orwells 1984. Denn die Erde erhitzt sich, die ewigen Gletschermassive an den Polen des Planeten schmelzen. Das Eis brennt.

„Burning Ice“ heißt deshalb für einen Monat das Motto der Kampagne „Cape Farewell – Kunst und Klimawandel“ in Hamburg. Ihren Mittelpunkt bildet, neben Podiumsdiskussionen, Musik- und Tanzaufführungen, eine Kunstausstellung in der Kulturfabrik Kampnagel. Sie zeigt die Werke von zwölf Künstlern, die gemeinsam mit Polarforschern die Arktis besegelt und ihr konkretes Erleben des Klimawandels ohne Stilgrenzen verarbeiten haben. An Bord waren Fotografen, Filmemacher, Maler, Musiker, Bildhauer, Schriftsteller. Vier Frauen und acht Männer aus Großbritannien, Australien und Frankreich. Es entstanden Arbeiten, die den weit entfernten Kontinentalbewohnern den Kollaps des fragilen Ökosystems am Nordpol emotional erfahrbar machen sollen. Arktische Fühl-o-grafien aus weißblauviolett schimmernden Diagrammen von der australischen Cartoonzeichnerin Michèle Noach inspirieren dazu, die innere Distanz zum Thema aufzugeben. Ihr Kontextoskop, ein Überwältigungs-o-meter und eine Trouble-we’re-in-O’Clock, reflektiert das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Information und Emotion, will es im Besucher neu justieren.

In ganz anderer Form stellt der britische Bildhauer und Fotograf Alex Hartley die Fassbarkeit der Katastrophe her. Auf einer vier Meter langen Collage aus unzähligen gerahmten Fotografien, Landkarten und Urkunden dokumentiert er die Entdeckung einer vom schmelzenden Eis freigegebenen Insel. Er betrat sie als erster Mensch und proklamierte auf dem fußballfeldgroßen Eiland sogleich eine demokratische Republik, die er den norwegischen Namen Nymark gab, zu Deutsch: Neues Land.

Es braucht Einfühlungsvermögen und Zeit, um in der Vielfalt und Vielschichtigkeit der Arbeiten immer wieder aufs Neue den individuellen Zugang des einzelnen Künstlers zu finden. Zum Beispiel bei der Geschichte des gestrandeten Wals. Sein mit Salzkristallen überzogenes weiß glitzerndes Skelett liegt aufgebahrt inmitten der Ausstellung; begleitet von einem Videodokument. Der Film beginnt an einem Sandstrand an der Ostküste Englands, wo das Künstlergespann Heather Ackroyd und Dan Harvey den toten Wal fand. Er zeigt, wie sie die Fleischmassen des Kadavers vom Knochengerüst trennten, wie sie im Atelier die Wirbel zersägten und kochten, wieder zusammensetzten und mit Aluminium-Kalium-Salz bestückten. Ein gefilmter Nekrolog, gehalten auf eine vom Aussterben bedrohte Spezies.

An den Weckrufcharakter der Ausstellung erinnert alle 28 Minuten ein bebendes Krachen, das alle Räume und Besucher durchfährt. David Buckland, Designer, Filmemacher und Initiator von Cape Farewell, verkündet sodann auf einer etwa vier mal vier Meter großen Videowand das Ende des Eises: Vor einer pittoresken Gletscherlandschaft steht ein gewaltiger, monolithischer Eisblock in der arktischen See, umflogen von kreischenden Möwen. Fast glaubte man, der Brocken würde ewig so stehen bleiben, doch dann, gegen Ende des Films, stürzt er berstend ins Meer – und die halbstündige Sequenz wiederholt sich. Das Bewusstsein der Menschen wolle er erreichen, sagt David Buckland, dessen Arbeiten in der Getty Collection in Los Angeles, im Metropolitan Museum in New York und im Centre Pompidou in Paris vertreten sind. „Die Wissenschaft identifiziert zwar das Problem, aber die Ursachen liegen tiefer. Der Klimawandel ist ein kulturelles Phänomen.“

Buckland sieht das Projekt Cape Farewell in der Tradition des sozialkritischen Realismus, wie er sich im Werk von Charles Dickens widerspiegelt. Ebenso ist aber auch die humanistische Strahlkraft von Picassos Guernica ein Vorbild, sagt er. Womöglich ist es die Geburt einer neuen Realitätskunst, eine endgültige Lossagung von den psychedelischen Fluchtreisen ins Unwirkliche. Sie legt unsere Lebenslüge offen, den kollektiven Realitätsverlust; nicht indem sie es feindlich in die Welt hinausbrüllt, nicht in defätistischer Opposition, nicht mit expressionistischer Aggressivität und auch ohne einer melancholischen Agonie zu verfallen. Auf einen konstruktiven Dialog mit den Wissenschaften, mit der Gesellschaft und mit den politischen Anforderungen der Gegenwart wirkt die Kampagne in Hamburg hin. Die Klimakatastrophe stellt die Autorität und Kompetenz des Tatsächlichen in Frage. Sie lädt ein und fordert auf, der Wirklichkeit ins Antlitz zu schauen. Und möglich macht das erst das unmittelbare Gefühl der drohenden Gefahr und des Verlusts.

Bis 22. April 2007, www.capefarewell.com oder www.kampnagel.de