Innenstadt macht blöd

Seit dem Rütli-Schock tobt die Debatte um die Abschaffung der Hauptschulen. Die Berlinkarte zeigt: Hauptschulen sind für Arme. Während es in den Problembezirken der City viele davon gibt, sind sie am reicheren Stadtrand schon fast ausgestorben

Von ALKE WIERTH

Die Zustände, die die Lehrerinnen und Lehrer der Neuköllner Rütli-Schule in ihrem Brief schilderten, waren alarmierend: „Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz“ attestierten die Pädagogen ihren Schülern, von denen über 80 Prozent aus Migrantenfamilien stammten. Deren ökonomische sowie soziale Perspektivlosigkeit mache es unmöglich, ihnen den Sinn von Bildung und Schulabschlüssen zu vermitteln. Gewalt bestimme stattdessen den Schulalltag: „Der Intensivtäter wird zum Vorbild.“ Effektives Unterrichten sei unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.

Fazit des Schreibens, das das Kollegium an die Schulaufsicht gerichtet hatte: Die Hauptschule sei „am Ende der Sackgasse angekommen“. Sie könne den Schülern keine Perspektive mehr bieten und müsse perspektivisch aufgelöst werden: „Zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung.“

Bei der Schulaufsicht und der Bildungsverwaltung blieb der Hilferuf zunächst ungehört – bis er am 30. März 2006 öffentlich bekannt wurde. Ergebnis war ein Medienspektakel: Kamerateams filmten an der Schule außer Kontrolle geratene Jugendliche, die – ermuntert durch dieses Interesse – ihre Darbietungen bereitwillig ausbauten. Der Rummel legte sich bald. Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) will heute nicht einmal zum Tag der Offenen Tür an der Schule kommen.

Was blieb, war jedoch eine erregte Debatte um Sinn und Unsinn der Hauptschulen und des dreigliedrigen Schulsystems. Denn dass das Absondern der jeweils schlechtesten SchülerInnen eines Jahrgangs in das Auffangbecken Hauptschule zu nichts Gutem führt, hatten auch die Pisa-Studien und der Bericht des UN-Sonderberichterstatters für Bildung, Vernor Munoz, bekräftigt. Sie bescheinigten dem deutschen Schulsystem, mit seinen Aussortiermechanismen sozial ungleich verteilte Bildungschancen noch zu zementieren.

Der Blick auf die Karte mit den Standorten der Hauptschulen in Berlin untermauert diesen Zusammenhang zwischen schlechten Bildungschancen und sozialer und ökonomischer Benachteiligung: Vom südlichen Reinickendorf über Wedding und Moabit, Tiergarten und Kreuzberg bis zu den nördlichen Teilen Neuköllns, Schönebergs und Tempelhofs zieht sich die breite „Achse der Blöden“. Die Mehrzahl der derzeit noch 55 Hauptschulen liegt in Bezirken, die sich durch problematische, weil sozial und ökonomisch schwache Wohngebiete auszeichnen: Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg, der Schöneberger Norden oder auch Wedding und Moabit. Auch am östlichen Stadtrand, in den Plattenbaugebieten von Marzahn-Hellersdorf, gibt es überdurchschnittlich viele Hauptschulen. In den reicheren Westbezirken dagegen oder auch den wohlhabenderen Gegenden im Osten findet sich die geschmähte Schulform kaum. Die gut verdienende Mittelschicht hat für ihre Kinder die Hauptschule längst abgeschafft.

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