Und der Regisseur bewegt sich doch

Hamlet-Tryout, „Studie I zu Bildbeschreibung“: Laurent Chétouane zelebrierte seine spröden, minimalistischen Theaterabende nun auch in Berlin

Bisher ist das Theater von Laurent Chétouane seinen Zuschauern nicht gerade mit offenen Armen entgegengekommen. Zwar inszeniert der 1973 geborene Franzose mit Vorliebe Klassiker der Dramenliteratur. Er hat sich jedoch nie für Aktualisierungen und konkrete soziale Verortungen interessiert. Sein Steckenpferd ist die Form. Er reitet es gründlich in abstrakten Räumen und mit Schauspielern, die sich eher geometrisch als spielerisch aufeinander beziehen und bar jeder Rollenpsychologie oder Spannungsdramaturgie ihre Texte sprechen. Das Ergebnis: minimalistische, spröde, oft geradezu andachtsvolle Abende, in denen das Publikum viel Zeit hat, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. So setzt Chétouane auch die Literatur wieder ins Recht (und manchmal auf einen Sockel): Das hat ihm, neben viel beißender Polemik gelangweilter Kritiker, auch die Zustimmung konservativer Theatergänger eingetragen – von Connaisseuren, die sein konzeptionelles Theater mit leicht masochistischer Freude genießen.

„Ich will mich bewegen, er will denken.“ So hat der Ex-Volksbühnenschauspieler Fabian Hinrichs vor zwei Jahren seine Arbeit mit Chétouane für das Büchner-Solo „Lenz“ charakterisiert. Der doppelte Soloabend dagegen, der jetzt an den Berliner Sophiensælen zu sehen war – Chétouanes spätes Hauptstadtdebüt –, zeigt, dass auch der Regisseur sich bewegen will. Das Hamlet-Tryout „Hinrichs. Prinz von Dänemark“ steckt voller verspielter Einfälle – und voller Fabian Hinrichs, der in herrlich O-bein-unterstreichenden Unterhosen nicht nur den Hamlet, sondern auch sämtliche weitere Figuren gibt: ein hochkonzentrierter Patient, der seine Krankheitsgeschichte mit verteilten Rollen spielt. Shakespeares Drama ist dabei so systematisch zerhäckselt wie der Rotkohlkopf, den Hinrichs in der Totengräberszene mit einem gewaltigen Messer zu Krautsalat schlägt. Wer jedoch die Tragödie um den erkenntnishungrigen Königssohn, der den vom Onkel ermordeten Vater rächt, nicht einigermaßen parat hat, wird mit Chétouanes Humor seine Schwierigkeiten haben.

Den zentralen Monolog um „Sein oder Nichtsein“ spricht Hinrichs erst gar nicht, sondern verteilt ihn auf Zetteln im Publikum, während ein auf der Bühne postiertes Papierschild witzelt: „Was man nicht sagen kann, muss man aufschreiben.“ Der Geist des Vaters ist ein mannshoher Scheinwerfer (bitte wörtlich nehmen!), mit dem der Schauspieler Zwiesprache hält; die vom Onkel zur Bespitzelung Hamlets engagierten Jugendfreunde Rosenkrantz und Güldenstern ploppen in Gestalt gelber Tennisbälle über die Bühne. Die Totenschädel schließlich, die Hamlet-Hinrichs auf dem Friedhof genau untersucht, um herauszufinden, was nach dem Tod passiert, werden von Kürbissen, Quitten und Kokosnüssen dargestellt und von Hinrichs hingebungsvoll zerhackt und zertreten. Tatsächlich spart Chétouanes Fassung alle Morde aus – bis auf den, den Hamlet selbst als Theater im Theater inszeniert. Finden Tragödien wirklich nur noch auf der Bühne statt?

Nicht halb so unterhaltsam dagegen die „Studie I zu Bildbeschreibung von Heiner Müller“. Dabei leuchtet durchaus ein, dass der amerikanische Tänzer Frank Willens Müllers ungekürzten Prosatext, in dem ein apokalyptisches Szenario das andere übermalt, so spricht, als gäbe es darin keinen Sinnzusammenhang, nämlich Wort für Wort voneinander isoliert. Ähnliches geschieht mit seinen Gliedern, die sich zuckend verselbständigen, die ihm schwingend zu entgleiten oder wegzuknicken drohen, angestoßen oft nur durch kleine Verschiebungen des Körperschwerpunkts. Gleichzeitig übersetzt Chétouanes Choreografie den Text überraschend illustrativ. Das ist eindrucksvoll, wenn die Toten als „der heimliche Pulsschlag des Planeten“ bezeichnet werden und Willens minutenlang mit beiden Beinen kraftvoll rhythmisch durch den Bühnenraum hüpft – und eher platt, wenn der Müllertext vom Würgen spricht und der Tänzer sich an den Hals fasst. So geht es zwei zunehmend zähe Stunden, bis Willens sich schließlich mit dem Licht eines leeren Diaprojektors überblendet. Da übersetzt nicht mehr das Theater den Text, sondern eine Methode die andere. EVA BEHRENDT