Alles eine Frage der Interpretation

Deutsch-Zentralabitur sorgt weiter für Ärger: Literaturwissenschaftler kritisieren Bewertungsvorgabe des nordrhein-westfälischen Schulministeriums. Korrekte Interpretation eines Gedichts könnte zu Punktabzug führen

DÜSSELDORF taz ■ Ein Gedicht aus dem 17. Jahrhundert bereitet NRW-Schulministerin Barbara Sommer weiter Probleme. Nachdem die CDU-Ministerin bereits einräumen musste, dass das zum Deutsch-Zentralabitur vorgelegte Sonett „Vergänglichkeit der Schönheit“ einen sinnentstellenden Fehler enthielt, wirft jetzt einer der renommiertesten deutschen Literaturwissenschaftler ihrem Haus vor, auch noch eine unzutreffende Interpretation von den Schülern zu verlangt zu haben. Die in vom Ministerium vorgegebene Deutung der Schlusspointe des Textes des Barocklyrikers Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau sei sei „falsch, zumindest einseitig, kurzschlüssig“, kritisiert der Kölner Literaturprofessor Karl Otto Conrady in einem der taz vorliegenden Schreiben.

Alarmiert hat den Kölner Emeritus der Troisdorfer Gesamtschullehrer Eckart Rüther, der auch schon auf die inzwischen eingeräumte Fehlformulierung aufmerksam gemacht hatte. Nun hat sich sein Blick auf die vom Schulministerium aufgestellten „Vorgaben für die Bewertung der Schülerleistungen“ gerichtet. Dort wird als Teilleistung gefordert: „Der Prüfling beschreibt auf inhaltlicher Ebene im Hoffmannswaldau-Gedicht die an die Frau adressierte Warnung des lyrischen Ichs vor der Vergänglichkeit der Schönheit und die Mahnung, sich auf die Beständigkeit des Herzens zu besinnen.“ Das sei „eine Vorgabe, die die Pointe des Gedichts völlig verkennt und in eine betuliche Richtung einengt“, moniert der 63-jährige Deutschlehrer. Fatale Folge sei, dass „Schüler, die das Gedicht in seiner Doppeldeutigkeit verstanden haben, damit nicht mehr die volle Punktzahl für diesen Teil bekommen dürfen“. Rüthers vernichtendes Urteil: Diese Ministeriumsvorgabe sei „dumm und ein Schlag ins Gesicht für jeden, der sich mit Barocklyrik nur ein bisschen auskennt“.

Wörtlich lautet der Schluss des Sonetts: „Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen / Dieweil es die natur aus diamant gemacht.“ Nach Auffassung Rüthers entpuppt sich die auf den ersten Blick als Kompliment erscheinende Diamant-Metapher bei genauerem Hinsehen als Klage über die Hartherzigkeit der Geliebten. Eine Sichtweise, die der angesehene Literaturprofessor Conrady teilt. Zudem weist der 81-jährige Germanist darauf hin, dass der verstorbene Barockspezialist Marian Szyrocki habe in der „Frankfurter Anthologie“ diese Zeilen ebenfalls dementsprechend aufgefasst habe.

Die Gelehrten scheinen sich einig zu sein: Auch für Bernhard Asmuth ist der Schluss des Gedichts „auf jeden Fall doppeldeutig“. Gerade dieser Hintersinn sei für ihn „der eigentliche Witz des Gedichts“, sagte der emeritierte Professor am Germanistischen Institut der Universität Bochum zur taz. Hoffmann von Hoffmannswaldau sei „ein Meister der Pointe“ gewesen.

Das lässt sich vom NRW-Ministerium für Schule und Weiterbildung nicht unbedingt behaupten. Zu „germanistischen Spitzfindigkeiten“ wolle das Ministerium keine Stellung nehmen, beschied ein Sprecher lapidar der taz. PASCAL BEUCKER