Die quietschende Schaukel

Ein Reise zu Ostern nach Hause. In mein altes Zuhause. Wo die Liebe zur Stadt, zu Woody Allen und Arnold Schwarzenegger begann. Und wohin zu fahren nötig ist, um erwachsen zu bleiben

VON DIRK KNIPPHALS

Wo du einmal in die Hecken kotztest.

Wo du Tümpeln eigene Namen gegeben hast, „37-Insel-See“ zum Beispiel.

Wo ein Storch deiner Schwester einmal in den Finger biss.

Wo du beim Bolzen auf der Straße mit dem Ball nie an Christian B. vorbeigekommen bist.

Wo die Nachbarin sich manchmal oben ohne sonnte, ein Hauch Mondänität in der Provinz der Siebzigerjahre.

Wo du auf unausgebauten Dachböden mit Freunden zur brettermonotonen Musik von Status Quo stundenlang Luftgitarre gespielt hast.

Wo du dich am Vorabend deines Geburtstags unter einen Baum gelegt hast, um der Frage nachzugehen, ob du dich wie Hanno Buddenbrook auch gegen das Leben entscheiden sollst.

Wo du dich gelangweilt hast, wie sich wohl nur Zwölfjährige langweilen können.

Da sind sie ja alle wieder, die Bilder und Erinnerungsfetzen. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, kommen sie wie von selbst, mal ruhiger, mal intensiver, je nach Lebenslage. Aber zuverlässig stellen sie sich ein in den Tagen, kurz bevor es nordwärts geht. So wie jetzt. Über Ostern fahre ich mal wieder auf ein paar Tage hin, zu dem Vorort bei Kiel, in dem ich aufgewachsen bin. Das ist ja immer auch eine Fahrt in die Vergangenheit.

Dieser Ort ist eine großzügig angelegte Siedlung aus Einfamilienhäusern, Ende der Sechziger in die sanft gehügelten Endmoränenteile Schleswig-Holsteins gesetzt. Als ich noch in ihm wohnte, gab es (und gibt es noch) Fliederbeersträucher und Badeseen. Die Innenstadt war zwanzig Minuten mit dem Omnibus entfernt. Wo die Gärten aufhörten, fingen die Knicks und die Rübenfelder an – meine Kindheitslandschaft (neben der Nordsee, das war die Urlaubslandschaft). Und irgendetwas von damals her scheint vor solchen Heimatfahrten immer bis in die Gegenwart auszustrahlen und die Erinnerungen in Bewegungen zu versetzen.

Nun sind solche Bilder längst ein innerer Schatz, den man gut hütet – auch wenn einem manche von ihnen noch mit Anfang, Mitte Vierzig erstaunlich peinlich sein können. Und doch frage ich mich manchmal selbst, was dieses Bohai immer soll, das mein Gedächtnis regelmäßig veranstaltet, sobald es darum geht, den Zug zu buchen, die Reisetasche zu packen und zu überlegen, welches dicke Buch man diesmal während der Tage im Vorort lesen soll. Als gehörte die Neubearbeitung meiner Erinnerungsbilder – einmal vor dem geistigen Auge wieder hervorkramen, dann sozusagen abstauben und sorgsam neu im Unterbewusstsein verpacken – zu den normalen Vorbereitungen einer solchen ansonsten nicht weiter aufwendigen Reise.

Mit den realen Tagen im Norden hat diese zuverlässig einsetzende Voraufregung jedenfalls wenig zu tun. Ach, das wird alles ja sicherlich einfach wieder ganz nett werden. In den Gärten wird es blühen. Ich werde sanft zum Kind wieder, wir werden ins Freilichtmuseum gehen und regelmäßige Mahlzeiten einnehmen an dem dunklen Esstisch mit den gedrechselten Beinen, an dem wir schon vor drei Jahrzehnten gegessen haben.

Aber irgendetwas in mir fängt bei solchen Gelegenheiten eben immer zu arbeiten an, ein Selbstvergewisserungsprogramm. So als müsse ich mich stets aufs Neue ins Verhältnis zu dieser Herkunft setzen und mich meines Lebensweges versichern. Seltsame Macht des Herkommens.

Sogar eine regelrechte Eröffnungssequenz für meinen inneren Erinnerungsfilm habe ich mittlerweile. Sie hat die schlichten Wunschfantasien abgelöst, die mich noch mit Ende Zwanzig beschäftigten und in denen ich jedes Mal eine triumphale Rückkehr in den Vorort imaginierte, reich mit Schätzen und Erfahrungen aus der Welt beladen.

Auch die Bestrafungsfantasien sind in den Hintergrund getreten. Als ich einmal mit einem Schriftsteller durch Baden-Baden ging, schlug der, durch irgendetwas an seine Vaterstadt erinnert, mit einem Mal seinen Mantel zurück, zückte eine imaginäre Kalaschnikow, hielt sie mit angewinkelten Armen in Richtung eines Kurhauses und ahmte mit dem Mund die ratternden Geräusche einer Maschinenpistole nach. Einige Jahre zuvor hätte das auch ich sein können, in Gedanken an meinen Vorort. Manchmal hätte ich ihn in die Luft sprengen können mit seiner gehobenen Spießigkeit, seiner Sozialkontrolle und seiner Wohleingerichtetheit.

Doch die Eröffnungssequenz, die mir nun beim Packen der Reisetasche durch den Kopf geht, hat eher etwas Tastendes. Ein Mann, Anfang, Mitte Vierzig – ich natürlich –, steht vor dem längst verkauften Elternhaus, und dann setzt diese langsame Kamerafahrt ein.

Die Kamera bewegt sich auf das Haus zu, die Haustür öffnet sich, vorsichtig fährt die Kamera in das Haus hinein, während gleichzeitig das Licht grobkörnig wird, dann erkundet sie die Räume, die sich unter der Hand rückverwandeln in die Räume der Kindheit – die alten schweren schwarzen Sessel stehen wieder vor dem Kamin, die mit rotem Bruchglas seltsam verzierten Lampen hängen wieder an der Wand –, und am Schluss sieht die Kamera aus dem großen Wohnzimmerfenster in den Garten, wo die Bäume inzwischen geschrumpft sind und gerade die Rituale eines Kindergeburtstags ablaufen, Eierlaufen und Jeden-Kuchen-doppelt-in-sich·rein-Stopfen, während unsere alte Schaukel sanft im Wind schwingt und ein wenig quietscht …

Nie würde ich behaupten, dass das mein wirklicher Erinnerungsfilm wäre. Deutlich schimmert die Kamerafahrt, mit der in Orson Welles’ Klassiker „Citizen Kane“ die Rückblende einsetzt, als (natürlich unerreichtes) Schema durch. Von fern spielt Marcel Prousts Madeleine-Episode bildungsbeflissen hinein, jene berühmte Szene aus der „Suche nach der verlorenen Zeit“, in der der Erzähler das Gebäck in eine Tasse Tee taucht – und sodann steigen „alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee“.

In gewisser Weise funktionieren die Reisevorbereitungen also wie eine Riesen-Madeleine, wie ein Transportmittel zurück in vergangene Zeit. Allein, von den Besuchen zuvor weiß ich: So wird es nicht werden. Ich werde zu Ostern vor dem alten Elternhaus stehen, werde durch die alten Straßen gehen (die mir längst merkwürdig klein vorkommen werden), werde momentweise vielleicht sogar einen Hauch Vergangenheit erahnen können – aber keine Kamerafahrt wird einsetzen, und es wird keine Tasse Tee geben, aus dem die Blumen unseres Gartens aufsteigen und die Seerosen auf den Tümpeln und die Nachbarn und die Kirche, „alles deutlich und greifbar“. Natürlich nicht.

So lösen die Reisevorbereitungen etwas aus, was die Reise nicht wird einlösen können. Der Wunsch, mit der eigenen Vergangenheit Kontakt aufzunehmen, ist vorhanden – nebenbei: Bedeutet, ihn bejahend zu registrieren, nicht einen Hinweis darauf, dass man inzwischen offenbar irgendwie doch noch erwachsen geworden ist? –, aber um ihn umzusetzen, reicht es nicht, an den Ort der eigenen Vergangenheit zurückzukehren (glücklicherweise ist das ja auch gar nicht der eigentliche Zweck des österlichen Besuchs bei der Familie). Es reicht auch nicht, sein inneres Kino nach alten Bildern zu durchstöbern. Man braucht dazu Muster, intersubjektiv geteilte Erinnerungssplitter, erzählte Geschichten und passende Schemata zu ihrer Verarbeitung. Und die wirklichen Erinnerungen, auch das kann man bei Proust lesen, kommen sowieso nie dann, wann man sie erwartet.

Zum Glück werden Schemata, Splitter und Erinnerungsmuster in den Medien und in den öffentlichen Debatten einem ja auch über die Maßen geboten. Die vielen Retroshows im Fernsehen über die wichtigsten Hits der Siebziger und Achtziger führen eigentlich ständig Gesangsstile, Kleidungsmuster, Geschlechterverhältnisse und Sprüche aus der jeweiligen Zeit vor; schade, dass sie oft so albern präsentiert werden. Und worum sich etwa die rhythmisch aufbrandenden Generationsdebatten im Vordergrund auch immer drehen mögen, im Grunde sind sie nichts anderes als offenbar erwünschte Anlässe, sich noch einmal gegenseitig zu erzählen, wo man herkommt und was das im eigenen Leben bedeutet.

Ein Gewährsmann in diesen Debatten ist der Soziologe Heinz Bude. Zwischen den Achtundsechzigern und deren Kindern geboren, ordnet er mich der „Kinder des Modells Deutschlands“ genannten Generationsformation zu. Bude: „Deren formative Lebensphase wird von signifikanten politischen Ereignissen wie dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im April 1972 auf der einen Seite und der ‚Schlacht um Brokdorf‘ im November 1981 auf der anderen Seite begrenzt.“

Tatsächlich gehört das Misstrauensvotum gegen Brandt zu den frühesten wirklich deutlichen öffentlichen Ereignissen, an die ich mich erinnern kann. Mein enttäuschter Vater hat mir an diesem Tag erklärt, dass er Barschel und die CDU zwar auch nicht wirklich „in Ordnung“ finde, aber immer noch besser als „die anderen“; achteinhalb Jahre alt war ich damals. Und sehr klar steht mir vor Augen, wie ich am Tag der Brokdorfschlacht in unserer damaligen Stammkneipe auf die Rückkehr der Kämpen gewartet habe, siebzehnjährig und beschämt, weil ich zu feige gewesen war, um mitzufahren. Es war, wie ich aus irgendeinem Grund deutlich weiß, einer der letzten Tage in meinem Leben, in denen ich Altbierbowle getrunken habe.

Auch meinen Vorort trifft Budes Schema recht gut: An diesem Ort hatte die Rede vom Modell Deutschland große Evidenz; wer von ihm erzählen will, wie er damals war, muss zugleich von eingelösten Lebensträumen erzählen und von Aufstiegsgeschichten. Hierher zogen Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, innerhalb ihrer Familien oft die erste Generation, die hatte studieren können – es war die Zeit, als die Mittelschicht noch dachte, wenn man ein Haus baut, Kinder zeugt und einen Baum pflanzt, sei das alles für die Ewigkeit gemacht. Wir Kinder dieses Modells sollten uns nur noch ins gemachte Nest setzen.

Das alles sind sicherlich brauchbare Koordinaten, um frühe Prägungen zu verorten. Aber um sich in seinen Erinnerungen heimisch sein zu lassen, sind solche allgemeinen Schemata zu dünn – was man gut an neueren deutschen Erinnerungsfilmen über die Siebziger- und Achtzigerjahre sehen kann, die sich allein an allgemein geteilten Erinnerungen halten: Sie fluchten schnell in Klischees von einer Nachachtundsechzigerzeit – und wirken oft ziemlich ausgedacht.

Die wahrhaft dichten Vergangenheitsbeschreibungen von Autoren meiner Generation – der „Kindheitsroman“ von Gerhard Henschel zum Beispiel oder „Neue Vahr Süd“ von Sven Regener – gehen anders vor. Aus Details und lokalen Ereignissen wie Fußballergebnissen, Biermarken und Kleidungsstilen weben sie ein dichtes Netz von Erinnerungssplittern, das in seiner jeweiligen Besonderheit nur ihre jeweiligen Helden haben können. Und damit hätte ich nun endlich auch den subjektiven Einstieg in diesen Essay über Reisevorbereitungen und Erinnerungen eingeholt: Es geht nicht anders. Wenn man an die Vergangenheit herankommen will, kann man nicht auf einer allgemeinen Ebene bleiben; man muss präzise und besonders werden.

Dazu gibt es ein schönes Prunkzitat von einem begnadeten Schriftsteller der Vorstädte: Der amerikanische Autor John Updike schreibt zu Beginn seines Erinnerungsbuches „Selbst-Bewußtsein“ über die in ihm enthaltenen „Ansätze zu einer Autobiografie“: „Sie geben wieder, was mir an meinem eigenen Leben wichtig erscheint, und versuchen, dies Leben, diese massive gegebene Größe, die zufällig mit mir zu tun hat, als exemplarisch darzustellen, als stellvertretend für all die sonderbar einzigartigen Leben auf dieser Welt.“ Obendrein ist dieses Zitat auch eine schöne Widerlegung der hin und wieder geäußerten Ansicht, dass es nur eine subjektive Nabelschau darstellt, wenn man essayistisch ich sagt.

Das ist nun die Stelle, an der ich, textdramaturgisch etwas unvermittelt, von der Sache her aber geboten, Woody Allen und Arnold Schwarzenegger aus dem Hut zaubern muss. An diesem auf den ersten Blick seltsamen Paar kann ich mir in solchen Zeiten der gehobenen Aufmerksamkeit für meine Erinnerungen mittlerweile recht gut stellvertretend klarmachen, wie sonderbar einzigartig mein Leben in diesem Vorort damals doch verlaufen ist.

Was man zuvor aber noch bedenken muss, ist dieses leicht nagende Gefühl von Unwirklichkeit, das über dem Vorort hing. Es war ja die Wirklichkeit der Kleinfamilie, die hier in Stein und Schindeldächer gegossen werden sollte; aber das trug schon damals nicht mehr. Außer den Familienfesten erledigten die Erwachsenen alles, was ihnen wichtig war, in der Stadt – die Arbeit, das Einkaufen, das Ausgehen. Hier im Vorort war der Platz fürs Schlafen, Essen und ein bisschen Gartenarbeit. Alles, was aufregend war, transportierten die Fernseher in die staubgewischten Wohnzimmer hinein, zunächst schwarzweiß, dann in Farbe.

Als Kind und erst recht als Jugendlicher wurde man förmlich angesaugt von diesem Glaskasten, wenn dort „Raumschiff Enterprise“ lief oder Ilja Richters „Disco“-Sendung – sowohl Spocks Spruch „Faszinierend“ als auch Ilja Richters emphatischer Ruf „Licht aus, Spot an“ wird in mir bis zu meinem Absterben sein. Und in dieses wohlgeordnete und vom Fernsehkonsum sanft illuminierte Vorortleben sendete die Außenwelt via Woody Allen und Arnold Schwarzenegger irritierende Signale. Aus der wirklichen Wirklichkeit erreichten einen spannende Nachrichten vom amerikanischen Vietnamkrieg und dem deutschen Terrorismus. Aber Woody Allen und Arnold Schwarzenegger lieferten etwas mindestens ebenso Interessantes: gangbare Wege, um aus dem Vorort herauszukommen. Damit hängt, glaube ich, auch zusammen, warum mein Gedächtnis vor so einer Heimatfahrt immer so ein Bohai veranstaltet: Ich muss mir versichern, dass mein Leben im Vorort, so schön es dort oft war, eine abgeschlossene Episode in meiner Biografie darstellt.

Woody Allens komödiantisches, längst reichlich albern wirkendes filmisches Frühwerk kam in der Provinz über die Programmkinos etwas verspätet an – und erwischte mich in der Pubertät. Die Furore, die sein Film „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ in meinem Leben gemacht hat, ist nicht zu überschätzen. Ich glaube, wochen-, wenn nicht gar monatelang habe ich mir die Vorgänge in meinem mir selbst fremd gewordenen, heranwachsenden Körper so vorgestellt, wie Woody Allen sie in der letzten Episode dieses Films schildert. Mit kleinen Männchen, die sich von Organ zu Organ Meldungen zufunken.

Außerdem waren die frühen Filme hilfreich, um mein Selbstbewusstsein aufzupolieren, wenn ich wieder einmal stundenlang in Mädchenzimmern herumgesessen habe, vollkommen hilflos und paralysiert von der Gegenwart des anderes Geschlechts. Keine Ahnung, was wir dabei in diesen Stunden über Stunden bei Tee und – ja, manchmal auch das – Räucherkerzen getan haben. Geredet wahrscheinlich. Musik gehört. Einfach nur herumgesessen. Zu Berührungen kam es nicht. Solche zappeligen, uneindeutigen und schließlich ergebnislosen Situationen kannte man schon von Woody-Allen-Filmen her.

Was dieser New Yorker Filmemacher mir in meiner schleswig-holsteinischen Vorortexistenz bedeutete, ist mir erst später wirklich klar geworden. Zum einen zeigte er, dass man Mädchen, später dann Frauen auch mit Reden beeindrucken konnte; man brauchte gar nicht den coolen Helden spielen. Das sind Erkenntnisse, die in einem Jungsleben entscheidend sein können. Zum anderen verkörperte er eine andere Form der Intellektualität, nicht so moralisch und erdenschwer wie die pfeiferauchenden Schriftsteller aus dem Deutschunterricht, sondern aufgeweckt, selbstironisch. Witzige Intellektualität, hatte man die in Deutschland nicht nur in kabarettistischer Form, bei Dieter Hildebrandt?

Um mal richtig spezifisch zu werden: Zur selben Zeit, als mich die frühen Woody-Allen-Filme erreichten, habe ich in meinem Jugendzimmer Kafka, Dostojewski, „Doktor Faustus“ von Thomas Mann gelesen. Was damals in pubertärer Verwirrung nebeneinander stand, kann ich mittlerweile deuten als ein inneres Hin-und-her-Gerissensein zwischen einem ironisch-pragmatischen und einem geniegeprägt-ernsthaften Kunstbegriff. Woody Allen ist dabei nicht nur die eine Seite dieses Kampfes, sondern eben auch der Weg aus ihm heraus gewesen. Indem er eine Zeit lang zwischen Ingmar-Bergman-haften Etüden und Tragikomödien hin und her gesprungen ist, hat Woody Allen diesen Kampf in sein Schaffen hineingenommen – bis schließlich nach mancherlei Umwegen die Verfeinerung der ironischen Meisterschaft über das Kunstbeflissene den Sieg davontrug.

Auf irgendeine mir bis heute nicht klare Weise ist parallel dazu mein innerer Weg raus aus dem Vorort gelaufen. Nachdem ich 1984 in die Stadt zog, bin ich immer in jeden Woody-Allen-Film gegangen, erst als Belohnung dafür, den Schritt ins Erwachsenenleben geschafft zu haben, aber auch, um diesen Schritt gedanklich durchzuarbeiten.

Immer wieder wollte ich Woody Allen in seinem Großstadtleben in Manhattan und seinem tragikomischen Intellektuellendasein verfolgen. Je souveräner er das handhabte, desto sicherer konnte ich mir auch bei meinem Schritt raus aus dem Vorort sein. Der Höhepunkt seines bisherigen Schaffens ist für mich bislang „Bullets Over Broadway“, eine ganz wunderbar abgründige Anti-Künstler-Komödie von 1994, von dem aus es keinen Weg mehr zurück zum Schwerkunstklischee gibt. Auch für mich bedeutete das 1994 das endgültige Kein-zurück-mehr. In jenem Jahr ist meine spätere Frau zum ersten Mal schwanger geworden; dennoch bin ich auch als Teil meiner Familie nicht in einen Vorort zurückgekehrt. Seit meine Kindheit vorbei ist, wollte ich in Städten leben, und zwar stets mittendrin.

Aber auch das alles bedeutet ja nur die eine Seite eines normal komplizierten Teenagers, der in einem Vorwort aufwuchs. Eine andere war Arnold Schwarzenegger. Um diesen Text richtig schön aufgehen zu lassen, könnte ich behaupten, der Muskelmann aus Graz bedeutete in meinem Leben all das, was der zappelige unernste Intellektuelle Woody Allen nicht repräsentieren konnte.

Aber das wäre zu schlicht. In diesem vorerwachsenen Kosmos aus Vorbildern, Einflüssen, fixen Ideen und vorsichtig ausprobierten Talenten, aus denen sich, wenn es einigermaßen läuft, irgendwann einmal ein gesichertes Selbstbild formen wird, hat Arnold Schwarzenegger schon früh eine eigene Rolle gespielt.

Ohne dass ich es einem anderen Menschen gegenüber zugegeben hätte – ich habe es mir lange Zeit ja gar nicht selbst richtig eingestanden! –, habe ich seine Karriere schon als Teenager mit gewogenem Interesse verfolgt. Mit seinem damals oft zur Grimasse verzerrten Lächeln und seinem zur Muskelmaschine gestählten Körper blickte er gleichsam von ganz weit weg in den Vorort hinein. Er stand für das Kriegerische, das wohl in jedem Jugendlichen steckt und das in diesem Vorort, nachdem die Zeit der Indianerspiele vorbei war (die wir intensiv betrieben haben), nun wirklich kein Ventil fand.

Ich weiß noch, nach dem einen und bislang einzigen Mal, bei dem ich ernsthaft geschlagen wurde – 1981, am Rand einer Demonstration gegen eine Rekrutenvereidigung in Schleswig –, habe ich meine damals mit jugendlichem Ernst betriebenen Anarchismusstudien eingestellt und mir stattdessen eine Sammlung mit Schwarzenegger-Fotos angelegt. Da war er noch Bodybuilder. Die interessanten Filme mit ihm kamen erst später in die Kinos.

Aber so wie ich mir von meinem Vorort aus in Woody Allen jemanden als Idol ausgesucht habe, in dem ich die Diskurse von Kunstwollen und Intellektualität gut kanalisieren und bearbeiten konnte, so habe ich mir in Arnold Schwarzenegger eben jemanden ausgesucht, in dem ich dasselbe auch mit Männermythen und dem Kriegerischen in mir tun konnte.

Wenn man cool draufguckt, bestand seine Filmkarriere ja im Wesentlichen aus zwei Schritten: Erst ging es ihm darum, eine zeitgemäße Version des Kriegers zu verkörpern, was seinen Höhepunkt natürlich im „Terminator“ fand. Dann war es Schwarzenegger wichtig, diese Verkörperung zu variieren, in hohen Gagen auszubeuten – und sogar zu verhohnepipeln. Klasse Filme sind dabei ganz bestimmt nicht immer herausgekommen. Aber eigentlich ist das doch ein ebenso ausgekochter wie erwachsener Umgang mit Männermythen.

So führt der Schritt zurück in die Erinnerungen an den Vorort gleich auch wieder aus ihm heraus. Es sind weite Bögen von den diffusen Erinnerungssplittern bis hin zu Woody Allen und Arnold Schwarzenegger. An den Entwicklungsromanen, die diese beiden so unterschiedlichen Männer zurückgelegt haben, kann ich meinen eigenen gut spiegeln. Das hat etwas Beruhigendes. Die Reisetasche ist gepackt, jetzt kann es losgehen. Mal sehen, was wirklich geschehen wird, wenn ich durch die alten Straßen gehe.

DIRK KNIPPHALS, 43, seit 1999 Kulturredakteur der taz in Berlin, verantwortet seit 2006 die Literaturberichterstattung