Ich, Hamlet

Mit 111 Zeichnungen in dem Buch „Hamlet_X – Interpolierte Fressen“ setzt der Schauspieler Herbert Fritsch seine ungewöhnliche Shakespeare-Exegese fort. Er sucht die Ideen zwischen den Zeilen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Dass der Raum zwischen zwei Punkten nie zu klein ist, um noch einen weiteren Punkt einzutragen, lernte man in der Mathematik. Dass der Raum zwischen zwei Sätzen aus Hamlet nie zu klein ist, um ihm eine eigene Geschichte zu widmen, lernt man in dem Buch „Hamlet X – Interpolierte Fressen“ von Herbert Fritsch.

Herbert Fritsch ist Schauspieler, Mitglied des Volksbühnen-Ensembles Berlin, aber nicht nur das. Er ist auch von Hamlet besessen und der Möglichkeit, aus fast jeder Szene ein eigenes kleines Stück machen zu können, dass den ganzen Bedeutungsraum der Worte eben nicht der Linearität von Handlung und Inszenierung unterordnet, sondern in viele Richtungen auszugreifen vermag. Das verfolgt er schon seit sechs Jahren in einer Serie von DVDs und auf einer Website (www.hamlet-x.de). Jetzt ist als neues Medium ein Buch mit 111 Zeichnungen herausgekommen, in dem Fritsch zusammen mit der Dramaturgin Sabrina Zwach den dänischen Prinzen durch eine neue Transformation schickt.

Da sieht man zum Beispiel das erschrockene Gesicht eines Mannes, der sich verwirrt die Hand vor den Mund hält, während neben ihm in Gedankenblasen Fetzen seines zerfallenden Selbstbildes zu lesen sind: „Ich, Hamlet, der Mensch gewordene Versprecher / äähh, Verbrecher, äähh / das falsch verstandene Versprechen, äähh / Vorsprecher?“. Wenige Seiten zuvor klebte er leicht zusammengekrümmt am Mobiltelefon: „Hallo? Hallo! Ja, Sie haben mich ganz richtig verstanden: Ich kündige! Ich habe das Interesse an der Zeitgenossenschaft verloren.“ Eher aus der Untersicht war er dazwischen entspannt auf dem Rücken liegend zu erleben, ein großes H. auf dem Hemd auf einer wie ein Werbeplakat gestalteten Seite: „Rent a Hero. Markenhelden für 300 Euro“. Und besonders gut aufgelegt zeigt er sich in Szene 53, wo jedes einzelne der verstrubbelt gezeichneten Haare euphorisch vibriert: „Beuys don’t cry!“ Da lacht er wohl schon über den eigenen Kalauer.

Es ist eine narzisstisch-monomanische, sprach- und witzverliebte Hamlet-Fassung, die Zwach und Fritsch hier mit dickem Bleistift hingestrichelt haben. Gerade seine Unlust, Genosse seiner Zeit zu sein, weist diesen überdrehten Typen als Gestalt unserer Zeit aus, der mit Verdruss und Fluchtgedanken auf Entscheidungsfragen reagiert. Der gezeichnete Held ist aber auch unschwer als Selbstbild des Schauspielers Herbert Fritsch zu erkennen, der auch auf der Bühne gern jeder Rolle mit Slapstick und Travestie mehr als eine Ebene einzieht. Das Buch ist seine Show, mehr als die von ihm initiierte DVD-Serie, in der ständig neue Schauspieler auftauchen. Für alle Fassungen gilt wie hier, dass Hamlet zur Maske wird, um umso unbeschwerter von sich erzählen zu können.

Es ist aber auch, und deshalb macht das Blättern in dem großen Buch Spaß, eine Geschichte fortgesetzter Kontextverschiebung. Die Lebendigkeit der Sprache vorzuführen, in der für jeden Sprecher andere Kontexte mit drinliegen, ist eine Mission, der sich Fritsch und Zwach verschrieben haben. Nichts finden sie so falsch wie ein Feststellen der Sprache, das sie als Abwürgen jedes Lebenssaftes fürchten. Ihrem Buch liegt in einer ins Papier geschnittenen Kassette die Hamlet-Übersetzung von Christoph Martin Wieland bei, mit der sich eine Verbindung zwischen den 111 nummerierten Zeichnungen und den durchnummerierten Szenen wieder herstellen lässt. Bis in solch verblüffende Details: „Enter / Players / With / Recorders“ steht einmal auf einer Seite, die wie das Display eines Recorders gestaltet ist. Fast ein Original-Shakespeare-Satz, dem Sinne nach: „Auftritt der Schauspieler mit ihren Flöten“.

Herbert Fritsch, Sabrina Zwach: „Hamlet_X – Interpolierte Fressen“. Verlag Theater der Zeit. Großformatiger, aufwendig gemachter Band, 45 €