Ein Haufen Deutsche

Ein Schweizer Arzt unter sieben Deutschen: „Die Deutschen sind überall, und sie sind nicht so beliebt, wie sie immer glauben“

AUS STANS ANNA LEHMANN (TEXT UND FOTO)

Manchmal nervt es sie. Diese immer freundliche, stets verbindliche Mentalität ihrer Arbeitgeber. „Die Schweizer würden einen nie direkt kritisieren. Es heißt höchstens: Is schon ganz gut so“, erzählt Eva Seitz, die deutsche Ärztin im schweizerischen Stans. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass dies gar nicht als Lob gemeint ist. Schweizer Freunde haben die junge Frau darauf hingewiesen und ihr freundlich geraten: „Schau, du musst auf die Untertöne achten.“

Eva Seitz (30) ist Medizinerin, Assistenzärztin genau genommen, also noch in der Ausbildung. In vier Jahren wird sie Fachärztin für Orthopädie sein. Sie hat seit halb acht Dienst in der Notfallaufnahme des Kantonsspitals Nidwalden in Stans, zwölf Stunden ist ihr Pieper auf Empfang, und die Skisaison ist noch nicht vorbei. Der warme Winter sorgt für deutlich weniger Betrieb, aber hier in der Zentralschweiz schmilzt der Schnee auf manchen Gipfeln nie. Vom Spital aus sieht Eva Seitz die Berge.

Der erste Skiunfall ist am Vormittag gekommen: ein junger Mann mit einem Bluterguss im Knie. Sein Sport nennt sich Base-Jumping, man rauscht auf Skiern über eine Klippe, springt in den Abgrund und landet dann mit dem Fallschirm. Eva Seitz ist beeindruckt. „Und das ist nicht gefährlich?“ Ach, eigentlich nicht, meint der Patient, er sei nur wegen der schlechten Schneeverhältnisse gegen die Eiswand geprallt. Dann fragt er zurück: Sag mal, kommst du eigentlich auch aus Deutschland?

Eva Seitz ist in Aschaffenburg aufgewachsen und hat in Rostock Medizin studiert, eine schöne Zeit, eine schöne Stadt. Aber dort arbeiten? „In Rostock ist es schwierig, eine Stelle zu bekommen, und auf dem Land, da arbeitest du viel für wenig Geld.“ Nach dem Staatsexamen sollte sie laut der deutschen Studienordnung ein Jahr Erfahrung im medizinischen Alltag sammeln, als unbezahlte Ärztin im Praktikum. Das AIP wurde 2004 abgeschafft, aber da wohnte Eva Seitz schon vier Jahre in Zürich. Vor einem Jahr ist sie an das Spital des Kantons Nidwalden in Stans gewechselt. Auf dem Weg zum Krankenhaus kommt sie an einer Milchanlage zum Selbstabzapfen vorbei – „Bei Tag und Nacht“. Die Luft riecht nach Kuhstall. Acht Assistenzärzte arbeiten im Spital, sieben davon sind Deutsche. Sie alle sind gleich nach dem Examen ausgewandert.

„Hier duzen sich von der Schwester bis zum Oberarzt alle“, stellen sie erstaunt fest. „Ich kann gleich Verantwortung übernehmen.“ „Ich verdiene mehr.“ Die Zugezogenen haben immer die gleichen Begründungen. Für deutsche Jungmediziner ist die Schweiz ein gelobtes Land, in dem das Geld reichlicher fließt, die Arbeit herausfordernder ist und die Hierarchien flacher sind als in Deutschland.

Etwa 2.000 deutsche Mediziner arbeiten derzeit in Schweizer Krankenhäusern und Praxen, immerhin ein Siebtel aller Klinikärzte. Neben Ärzten kommen auch Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten und Lehrer. Die deutschen Einwanderer sind jung – über die Hälfte ist unter 40 –, sie sind mehrheitlich hochqualifiziert, und sie konkurrieren mit den Schweizern um gutbezahlte Jobs. Das steile Gefälle in der Arbeitslosenstatistik zwischen Deutschland und der Schweiz mit Quasivollbeschäftigung führte dazu, dass die Deutschen letztes Jahr zur größten Einwanderergruppe wurden. 15.000 Zuzüge aus Deutschland verzeichnete das Schweizer Bundesamt für Migration 2006. Jeder sechste Ausländer in der Schweiz ist Deutscher. „Die Deutschen kommen“, überschrieb die Boulevardzeitung Blick zu Jahresbeginn eine Serie, die eine Diskussion darüber auslöste, wie viele Deutsche die Schweiz verträgt.

„Es ist nicht der Einzelne, es ist die schiere Masse“, sagt die Schwester an der Theke der Notfallaufnahme. „Würdet ihr es gut finden, wenn wir in Berlin ein Spital eröffnen, in dem nur Schweizer arbeiten?“ Sie nimmt die Tagesarztliste für den Monat März zur Hand und zählt 7 deutsche Oberärzte, 2 deutsche Chefärzte, Assistenten und Unterassistenten – macht zusammen: „Än Huufe Dütschi“ – einen Haufen Deutsche.

Eva Seitz kommt an die Theke. „Ach die Dütschi, immer die Dütschi“, wiederholt sie fröhlich. Sie gibt der Schwester den Laufzettel: Die Patientin in Zimmer drei mit den Schmerzen in der Seite wird zum Ultraschall überwiesen, die ältere Dame mit Verdacht auf Gehirnblutungen bekommt eine Infusion. Ihr Pieper geht. Sie wird gerufen. Die Eva ist beliebt, kein böses Wort sagen die Schwestern über sie und die deutschen Kollegen. „Aber die Patienten fragen schon: Ja habts ihr denn hier keine Schweizer Ärzte?“

Die Wahrheit ist: nein. Jedenfalls nicht genügend und vor allem nicht hier in der Provinz. Die Schweizer Mediziner zieht es an große Häuser in Basel oder Zürich. Dafür kommen eben die Deutschen. Wenn er könnte, er würde nur Schweizer einstellen, sagt Klaus von Rotz, Leiter der Notfallaufnahme. Aber es bewerben sich zu wenige. Die Deutschen werden gebraucht, erwünscht sind sie nicht.

Klaus von Rotz ist klein und drahtig und hat schwarze, schelmische Augen. „Ein Supertyp“, sagt Eva Seitz über ihn. „Die Eva ist keine richtige Deutsche, sie lacht zu viel“, sagt er über sie. Klaus von Rotz ist im Nachbarkanton geboren. „Das ist ein Urkanton hier“, erzählt er. Die Leute sind Bauern, sie reden ihre Sprache und empfinden Hochdeutsch als kalt und fremd. „Die Deutschen sind überall, und sie sind nicht so beliebt, wie sie immer glauben“, sagt von Rotz vorsichtig. „Das Klima wird kälter.“

„Is scho mühsam mit dir“, sagt der Schweizer, wenn ein Deutscher vom „kompletten Vollidioten“ spricht

Als direkt und arrogant bezeichnen Schweizer die deutsche Art und meinen damit poltrig und großkotzig. Was die Schweizer stört, das geht auch einem eingewanderten Deutschen wie Asmus Frank manchmal auf die Nerven. Der direkte Vorgesetzte von Eva Seitz ist Oberarzt und arbeitet oft mit Jungmedizinern zusammen, Deutschen und Schweizern. Bei den deutschen Absolventen heißt es meist: Kann ich schon, hab ich schon gemacht. „Der Schweizer untertreibt lieber und sagt: Ja, kannst du vielleicht noch mal draufschauen.“

Er mag die behäbigere Art der Schweizer, die Deutschen sind ihm zu – tja, da fehlen ihm die Worte, und er legt beide Hände an die Stirn und deutet einen Tunnel an. Asmus Frank hat in Berlin studiert und nach dem Studium als Arzneimittellieferant gejobbt. „Ich habe immer gemacht, was mir Spaß macht“, sagt er, und dieses Credo führte ihn nach Davos, Basel und schließlich in den Kanton Nidwalden. 15 Jahre Schweiz haben seinen norddeutschen Dialekt abgeschliffen und ins Schwyzerdütsche driften lassen, er sagt jetzt stets Grüezi und lieber zweimal Ade, er gibt immer die Hand dabei und hat gelernt, wie man jemandem schonend beibringt, dass er ein großer Idiot sei: „Is scho mühsam mit dir.“

Drei Monate hat sie gebraucht, bis sie die Leute hier verstanden hat, erzählt Eva Seitz. Um selbst verstanden zu werden, musste sie sich angewöhnen, langsam zu reden und Pausen zu machen. Sie selbst redet Hochdeutsch mit den Patienten. So wie mit der alten Dame, die am Nachmittag von ihrer Enkelin gebracht wird. Die Oma sei so schwari-dari, erzählt die. Seitz übersetzt: Sie ist leicht verwirrt. Sie fragt die ältere Dame sehr langsam und sehr deutlich nach dem heutigen Datum. Die lächelt und schüttelt den Kopf. Seitz tippt auf Durchblutungsstörungen, ordnet weitere Untersuchungen an und überweist die Frau auf die Bettenstation. Dann geht sie nach nebenan an ihren Schreibtisch und füllt den Kurzbericht aus.

Nein, mit Patienten habe sie keine Probleme, sagt Eva Seitz und schaut von dem Formular auf. Anfangs eher mit Kollegen. „Man bekommt so wenig Feedback.“ Manchmal, da wünscht sie sich eben mehr Direktheit, mehr Kritik. Sie stockt beim Schreiben und sagt zur Wand: „Sagt doch einfach, was euch nicht passt.“ Jemand lacht. Es ist die Patientin mit den Schmerzen in der Seite, eine füllige Brünette. Sie liegt noch auf der Liege und wartet, bis die Ergebnisse vom Ultraschall da sind. „Mit Ausländern haben sie es hier nit so“, tröstet sie Eva Seitz. „Ich bin Italienerin, das is auch nit so gut.“

* Name verändert, d. Red.