Ein Blick in den Nachbarkäfig

Als ich in den Käfig zurückkam, traute ich meinen Augen nicht: Da war ein neuer Gefangener in einem Käfig, der bislang leer gestanden hatte. Er war noch jung, vielleicht so alt wie ich, neunzehn oder zwanzig Jahre. Er lag auf dem Boden und gab leise Geräusche von sich. Er weinte nicht, aber ich glaubte so etwas wie eine Melodie, ein trauriges arabisches Lied zu hören. Er hatte keine Beine mehr. Seine Wunden waren noch ganz frisch. Ich saß in meinem Käfig und konnte kaum hinsehen. Nur verstohlen blickte ich immer wieder in seine Richtung. Seine Stümpfe waren ganz eitrig. Der Verband, der darumgewickelt war, hatte sich rot und gelb verfärbt. Alles blutete und nässte. An den Händen hatte er Frostbeulen. Seine Finger schien er kaum noch bewegen zu können. Ich sah, wie er sich aufrichtete. Er kroch zu dem Eimer in seinem Käfig und versuchte daraufzuklettern. Er musste wohl auf die Toilette. Er versuchte sich mit den Händen am Maschendraht heraufzuziehen, um den Eimer zu erreichen. Aber er schaffte es nicht. Er konnte mit diesen geschwollenen Händen ja kaum greifen. Trotzdem versuchte er es verzweifelt. Da kam ein Wärter und schlug ihm von draußen mit dem Knüppel auf die Hände. Der Junge fiel zu Boden. Jedes Mal, wenn er versuchte sich auf den Eimer zu hieven, kamen die Wärter und schlugen ihm auf die Hände. Das war Gesetz: Wir durften den Draht nicht berühren. Aber ein Junge ohne Beine? (…) Er hieß Abdul Rahman. Ich glaubte zu verstehen, dass er in Bagram gewesen war. Dort hatte man ihn, ebenso wie uns in Kandahar, großer Kälte ausgesetzt. So hatte er wohl die Frostbeulen an den Händen und Erfrierungen an den Füßen bekommen. Daraufhin haben ihm die amerikanischen Ärzte im Militärlazarett die Beine amputiert. (…) Trotzdem warfen sie ihn einfach in diesen Käfig und ließen ihn dort liegen. (…) Heute weiß ich, dass Abdul seine Verletzungen überlebt hat. (…) Er wird noch immer in Guantánamo gefangen gehalten.