„Wir wollen die Mauer durchlöchern“

HOFFNUNG Er war Soldat, heute ist er Künstler. Der Israeli Juliano Mer Khamis über die Herausforderung, mit palästinensischen Kindern die „Farm der Tiere“ zu inszenieren

■ Der israelische Regisseur und Schauspieler Juliano Mer Khamis, 1958 in Nazareth geboren, wuchs als Sohn des palästinensischen Kommunisten Saliba Khamis und der jüdischen Menschenrechtsaktivistin Arna Mer auf. In den 80er-Jahren gründete seine Mutter ein Kindertheater im Flüchtlingslager Dschenin. 1995 starb Arna an Krebs, 2002 wurde das Theater zerstört. Im gleichen Jahr drehte Juliano einen Film über die Arbeit seiner Mutter und das Schicksal der Kinder („Arna’s Children“). 2006 entschloss er sich, das Theater als Freedom Theatre wieder aufzubauen. Derzeit ist es ins Visier palästinensischer Gegner geraten. Kürzlich wurden zwei Brandanschläge auf das Theater verübt.

■ Das Freedom Theatre beteiligt sich in diesem Jahr erstmals an der Kinderkulturkarawane (www.kinderkulturkarawane.de).

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Herr Mer Khamis, Sie sind israelischer Bürger, arbeiten aber an einem Theater in Dschenin in Palästina. Ihre Mutter war Jüdin, ihr Vater Araber. Was sind Sie?

Juliano Mer Khamis: Beides, nichts von beidem. Für viele Araber war ich ein dreckiger Jude, für Juden ein dreckiger Araber. Ich war als Junge, anders als mein Bruder, auf einer jüdischen Schule. Ich hatte eine jüdische Freundin, jüdische Freunde. Ich war auch bei der israelischen Armee. [Palästinensische Israelis gehen nicht zur Armee, d. Red.] Ich war sogar bei den Special Forces. Ich wollte damals ein guter, starker Jude sein. Mein Vater hat deshalb jahrelang nicht mit mir geredet.

Eine jüdisch-arabische Ehe ist ungewöhnlich in Israel. War Ihre Mutter auch empört über Ihre Entscheidung?

Nein, meine Mutter hat mich darin unterstützt, in die israelische Armee zu gehen. Sie dachte sich wohl, dass ich meinen eigenen Weg finden müsste.

In der Armee ging alles gut?

Nein, ich landete eineinhalb Jahre im Knast. Ich schlug meinen vorgesetzten Offizier mit einem Gewehrkolben ins Gesicht. Er hatte, an einem Checkpoint zwischen Dschenin und Haifa, einen alten Araber verprügelt. Ich wollte ihn stoppen, aber er hörte nicht auf. Da habe ich zugeschlagen.

Warum?

Aus Gerechtigkeitsempfinden.

Nur deswegen?

Nein. Die Offiziere hatten mich immer wieder provoziert. Sie haben gefragt, ob ich denn meine „Brüder“ auch tatsächlich so in Schach halten kann, wie es sich für einen israelischen Elitesoldaten geziemt. Außerdem kannte ich bis dahin nur die Grundausbildung. Da haben wir vor allem Sport gemacht und Überlebenstraining. Dann kam, wie ein Schock, der Einsatz, die Konfrontation mit der Besatzungsrealität. Meine ganze verkorkste Identitätskonstruktion, die Unterdrückung meiner palästinensischen Seite explodierte in dem Moment, als wir diesen alten Palästinenser verprügeln sollten. Das zu sagen klingt für Sie wahrscheinlich ein bisschen theatralisch. Schauspieler übertreiben ja gern. Aber es war wirklich so.

Und nach dem Gefängnis?

… wurde ich Schauspieler in Israel, bis vor vier Jahren. Dann konnte ich nicht mehr.

Schon wieder ein Schlüsselerlebnis?

Ich arbeitete damals in Tel Aviv als Schauspieler. Gleichzeitig drehte ich einen Film über Dschenin. Ich bewegte mich in zwei Welten. Einerseits die Geschichte meiner Mutter, ihre Theaterarbeit in den 80er-Jahren mit Flüchtlingskindern, die Geschichte der Kinder, einige waren Selbstmordattentäter geworden, viele wurden von der israelischen Armee erschossen. Andererseits spielte ich Shakespeare in Tel Aviv. Eines Abends in Tel Aviv schaute ich kurz vor der Aufführung durch den Vorhang: Der Saal war voll mit Soldaten. Ich kam damals gerade von der Beerdigung eines guten Freundes, der in Dschenin erschossen worden war. Ich war dabei gewesen, als er starb. Jetzt sollte ich für die kulturelle Truppenbetreuung sorgen. Das konnte ich nicht tun. Ich weigerte mich aufzutreten.

Sie leiten jetzt das Freedom Theatre in Dschenin. Die erste eigene Produktion des Theaters war Orwells „Farm der Tiere“. Warum dieses Stück?

Weil „Farm der Tiere“ zeigt, wie die Macht Freiheitskämpfer in korrupte Herrscher verwandelt. Und das ist in Dschenin hochaktuell. Wir haben diese Parabel auf die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland bezogen, die sich mit der israelischen Besatzung arrangiert hat und sich aufführt wie ein Diktator. So etwas zu zeigen ist für die palästinensische Kultur neu. Denn uns fehlt eine Kultur der Kritik, das Freidenkerische. Das wollen wir ändern. Das Stück kam gut an, denn viele Palästinenser wollen eine kritische Auseinandersetzung.

Sie haben 2006 gesagt, dass das Freedom Theatre Kinder und Jugendliche „von den Narben der Besatzung und patriarchalen Zwängen der palästinensischen Gesellschaft befreien will“. Ein hoher Anspruch. Ist daraus etwas geworden?

Ich denke schon. Wir sind noch längst keine Bewegung, die etwas fundamental verändern kann. Aber wir wachsen. Das dauert, denn die israelische Belagerung hat die Leute in Dschenin zerrieben und zermürbt. Ich meine das nicht als theatralische Metapher, es ist eine Beschreibung der psychischen Folgen der Besatzung. Dschenin war sieben Jahre lang komplett von der Außenwelt abgeschlossen. Dschenin ist eigentlich tot.

Haben Sie so etwas wie Hoffnung?

Nein, es ist falsch, in Dschenin Hoffnung zu haben. Denn das macht depressiv. Israel schafft immer neue Fakten, okkupiert noch mehr Land, zerstört jede Entwicklungsmöglichkeit Palästinas und verbaut mit der Mauer buchstäblich auch die Reste der palästinensischen Infrastruktur. Kein Obama und kein Abbas werden dies stoppen. Wir sind auf dem Weg zur Hölle.

Dschenin gilt aber doch – auch wegen des Theaters – als gelungenes Beispiel für die Deeskalation der Gewalt. Es war ein Zentrum der zweiten Intifada. Militante Kämpfer gegen Israel haben ihre Waffen niedergelegt, Jugendbanden beherrschen nicht länger die Straßen. Es gibt wieder mehr Sicherheit …

Das ist albern …

Ist Dschenin nicht sicherer geworden?

Nein, das ist israelische Propaganda. Heute kontrollieren nicht mehr die jungen Freiheitskämpfer die Straßen, sondern die korrupte Polizei der Autonomiebehörde. Ich kann darin keinen Gewinn an Sicherheit erkennen. Neulich ist das Musikkonservatorium in Flammen aufgegangen – trotz der Sicherheit, die die Behörde garantiert. Es gab auch zwei Brandanschläge in den letzten Wochen auf das Freedom Theatre.

Von wem?

Das ist unklar. Vielleicht Kriminelle. Es gibt aber in Dschenin manche, die ablehnen, was wir tun.

Wer?

Konservative religiöse Traditionalisten. Wer sonst lehnt schon Musik und Theater ab?

Sind das viele?

Ich schätze, die Hälfte der Dscheniner. Das ist das Ergebnis von sieben Jahren Isolation durch die israelische Armee. Niemand konnte rein, niemand raus. Da bildet sich Gettomentalität – Misstrauen gegenüber allem Neuen, Fremden.

Wie äußert sich das?

Eltern weigern sich, ihre Kinder zu uns zu schicken. Dscheniner haben gegen das Theater demonstriert. Und es boykottiert. Sie haben Flugblätter gegen uns verteilt, das Gerücht verbreitet, dass wir mit Israel kollaborieren und die palästinensische Kultur zerstören wollen. Das kam allerdings nicht von der Hamas, sondern eher von sehr traditionell eingestellten Älteren.

Können Sie mit ihnen reden? Oder geht das nicht?

Doch, nur so haben wir das Theater aufbauen können. Als wir anfingen, haben wir mit zwei Kindern gearbeitet. Wir mussten ganz langsam Vertrauen bilden. Wir mussten bis vor eineinhalb Jahren wirklich um jedes Kind kämpfen – besonders um die Mädchen. Das haben wir geschafft. Heute ist die Hürde für Kinder, im Theater mitzuarbeiten, viel niedriger.

Sie sagen, der Widerstand der Traditionalisten gegen das Theater ist das Resultat der Besatzung. Ist es nicht eher ein hausgemachter palästinensischer Fundamentalismus?

Nein, Dschenin war vor der Belagerung anders. Eine Stadt mit Alkohol, Hasch, Sex, Korruption. Anders aber auch deshalb, weil damals tausende Dscheniner in Israel arbeiteten. Sie hatten Kontakt mit der Moderne. Israel verkörpert die Moderne – das bestreite ich keineswegs.

Ist das Freedom Theatre Therapie für traumatisierte Jugendliche oder Kunst?

Es ist Politik.

Stadt: Die Stadt Dschenin liegt im Norden des Westjordanlands. Nach dem UN-Teilungsplan von 1947 einem arabisch-palästinensischen Staat zugesprochen, fällt sie unter Kontrolle Jordaniens und wird 1967 von Israel besetzt. Seit 1996 ist Dschenin autonom und wird von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert.

■ Lager: 1953 errichtet die UNO bei der Stadt Dschenin das Flüchtlingslager Dschenin. 2002 als Herkunft mehrerer palästinensischer Selbstmordattentäter ausgemacht, wurde das Lager von der israelischen Armee besetzt und zu großen Teilen zerstört. Menschenrechtsorganisationen sprachen von extralegalen Hinrichtungen.

■ Einwohner: In der Stadt Dschenin leben heute etwa 35.000 Menschen, im Flüchtlingslager Dschenin, in dem das Freedom Theatre liegt, rund 12.000. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen haben die jahrelange Besatzung und Isolation des Lagers teilweise schwere traumatische Störungen hinterlassen.

Also ist Kunst nur eine Funktion des politischen Kampfes?

Ich glaube nicht, dass man Kunst und Politik trennen kann. Wenn man es tut, entsteht konsumistischer, selbstreferentieller Mist, der mich nicht interessiert. Wir benutzen Kunst, um die Mauer und die Politik der ethnischen Verdrängung zu durchlöchern.

Kürzlich hat ein Jugendorchester aus Dschenin in Israel ein Konzert vor Holocaust-Überlebenden gegeben. Die Leiterin darf nun Dschenin nicht mehr betreten – wegen Kollaboration mit dem Feind. Wie sehen Sie das?

Gelassen. Es stimmt schon, dass die Reise des Orchesters ein Problem ist: Ein paar Jugendliche dürfen bei Wohlverhalten nach Israel, während Hunderttausende ausgesperrt sind und wöchentlich Kranke sterben, weil sie keine Erlaubnis bekommen, die Checkpoints zu passieren. Das muss man kritisieren …

Aber?

Aber in Dschenin tun viele so, als sei die Reise ein Riesenskandal. Das ist lächerlich. Ein paar Kinder haben in Tel Aviv Violine gespielt – na und? Manche scheinen zu glauben, dass der palästinensische Befreiungskampf gescheitert ist, weil eine naive, alte Dame mit ein paar Jugendlichen Geige gespielt hat. Albern.

Wie reagieren die Palästinenser in Dschenin, wenn Sie ihnen das sagen?

Es gab dazu kürzlich eine Pressekonferenz der Palästinenser in Dschenin. Sie haben mich hinausgeworfen.

Warum?

Weil ich gesagt habe: Regt euch lieber über etwas auf, das lohnt. Zum Beispiel über den Brandanschlag auf das Musikkonservatorium und das Freedom Theatre. Das wollten sie nicht hören. Die Palästinenser haben sich mit dieser Skandalisierung der Konzertreise nur ins eigene Bein geschossen. In einigen US-amerikanischen Medien scheinen sie mal wieder als herzlose Monster, die Holocaust-Überlebenden auch noch ein Geigenkonzert missgönnen.

Es gab eine Morddrohung gegen Sie. Ist es gefährlich, in Dschenin Theater zu machen?

Offensichtlich ja.

Fühlen Sie sich bedroht?

Manchmal mehr, manchmal weniger. Aber das ist immer noch besser, als in Tel Aviv den Entertainer zu spielen.