Basisdemokratie: 350 Kreuze für Berlin

Die Aktivisten von "Mehr Demokratie" sammeln ab sofort Unterschriften für ein neues Wahlrecht. Es wäre viel komplizierter, aber auch viel gerechter als das bisherige.

Ziemlich wirkungsmächtig: Die Hand an der Urne Bild: AP

In der ersten Stufe braucht "Mehr Demokratie" 20.000 Unterschriften, damit sich das Landesparlament mit den Forderungen des Vereins befassen muss. Wenn das Abgeordnetenhaus die Ideen ablehnt, müssen für den zweiten Schritt 170.000 Wahlberechtigte unterschreiben. Zusammen mit der Bundestagswahl 2009 könnten die Berliner dann entscheiden, ob sie fünf Zweitstimmen haben wollen und per Präferenzwahl stärker Einfluss darauf nehmen wollen, welche Abgeordneten im Parlament sitzen. Derzeit haben die Berliner bei Abgeordnetenhauswahlen nur zwei Stimmen. Das neue Wahlrecht würde erstmals bei der Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2011 zum Einsatz kommen. Für die Vorschläge zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und zum Wahlrecht für Ausländer wäre dagegen schon nach der ersten Stufe Schluss - zu diesen Themen ist kein Volksentscheid erlaubt, da sie in der Landesverfassung und im Grundgesetz geregelt werden. HEI

Die Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität haben sich mit den Vorschlägen des Vereins "Mehr Demokratie" für ein neues Wahlrecht in Berlin noch nicht im Detail auseinandergesetzt. "Aber wenn es so kompliziert werden soll wie in Hamburg, na dann danke", sagt Politikprofessor Oskar Niedermayer.

Bei der Wahl dort am 24. Februar konnten die Bürger erstmals zwölf Stimmen abgeben - statt wie vorher zwei. Das Resultat: Erst nach fünf Tagen waren alle Stimmen ausgezählt. Und dabei hatten die Wahlhelfer sogar noch Glück - sie hätten mit der Auszählung auch noch viel mehr Arbeit haben können. Doch nach der Lektüre der an alle Haushalte verschickten 36 Seiten umfassenden Infobroschüre hatten so viele Bürger die Lust am Wählen verloren, dass die Wahlbeteiligung um 6,5 Prozentpunkte auf 62,2 Prozent sank - so wenige wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte Hamburgs.

Und in Berlin soll alles noch viel komplizierter werden.

An diesem Donnerstag startet der Verein "Mehr Demokratie" seine Unterschriftensammlung für ein neues Wahlrecht. Bei dem ersten Teil der Vorschläge geht es darum, dass künftig auch 16-Jährige und alle Ausländer bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Berlins und zu den Bezirksparlamenten ihre Kreuze machen dürfen. Bisher dürfen nur EU-Ausländer abstimmen - und dies auch nur bei Kommunalwahlen.

Bei dem zweiten Teil geht es um die Zahl dieser Kreuze: Durch ein ausgeklügeltes Wahlsystem, das in Deutschland noch nie ausprobiert wurde, sollen die Bürger einen stärkeren Einfluss darauf haben, welche Politiker im Parlament sitzen. Auch die Politiker, die von ihren Parteien nur einen hinteren Listenplatz bekommen haben, sollen noch eine Chance bekommen.

"Wir wollen, dass künftig keine Stimme mehr verloren geht", erklärt Michael Efler, Geschäftsführer von "Mehr Demokratie". Das kann derzeit zum Beispiel passieren, wenn ein Wähler sein Kreuz bei einer Partei macht, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Künftig sollen die Wähler daher auch eine Ersatzstimme bekommen - wenn die Wunschpartei nicht ins Landesparlament einzieht, geht die Stimme an diese Ersatzpartei.

Außerdem hat "Mehr Demokratie" noch ein anderes Problem beim Wahlrecht ausgemacht: dass man sich immer für eine Partei entscheiden muss. Daher sollen die Wähler fünf Zweitstimmen bekommen - das sind im Vergleich mit der Erststimme die wichtigeren Stimmen, weil sie darüber entscheiden, wie stark die Parteien im Landesparlament vertreten sind.

Viel mehr Zweitstimmen

Wer will, kann mit seinen fünf Zweitstimmen dann zum Beispiel Koalitionen wählen. Um etwa die aktuelle Regierung zu unterstützen, würden drei Stimmen an die SPD gehen und zwei an die Linke. Wer mag, kann auch alle fünf Stimmen der Anarchistischen Pogo-Partei geben - sollte aber zur Sicherheit noch die Ersatzstimme verwenden, falls die Politspontis doch nicht ins Abgeordnetenhaus einziehen.

Die eigentliche Revolution aber wäre das von "Mehr Demokratie" vorgeschlagene Präferenzwahlsystem. Wenn es sich durchsetzt, können in Zukunft nicht mehr die Parteien bestimmen, wer für sie ins Parlament zieht. Derzeit stellen die Parteitage lange Listen der Kandidaten auf, und wenn eine Partei zum Beispiel zehn Listensitze erhält, ziehen die ersten zehn Personen von dieser Liste ins Parlament. In Zukunft soll ein Wähler bei jeder Partei, die eine oder mehrere Zweitstimmen von ihm erhält, bestimmen, an welche Kandidaten auf der Parteiliste diese Stimmen gehen sollen.

Der Clou folgt bei der Auszählung: Von der Stimme eines Wählers profitiert zuerst der Politiker, den der Wähler auf Platz eins gesetzt hat. Angenommen, dieser Politiker erhält viermal so viele Stimmen, wie er für den Einzug ins Parlament benötigt. Damit jene drei Viertel der Stimmen, die er nicht gebraucht hätte, nicht verloren sind, wird im zweiten Schritt die Stimme des Wählers aufgeteilt. Drei Viertel der Stimme, also eine 0,75-Stimme, geht nun an den Kandidaten, den der Wähler auf Platz zwei gesetzt hat. Doch dieser Politiker erhält insgesamt zu wenig Stimmen. Die 0,75-Stimme geht daher an den Kandidaten auf Platz drei - und so weiter.

Es ist das perfekte System, damit keine Stimme verloren geht oder überflüssig ist. Dennoch sorgt sich Politikprofessor und Wahlsystemforscher Dieter Nohlen von der Uni Heidelberg bei den Vorschlägen von "Mehr Demokratie" um die "Balance zwischen verschiedenen Funktionen, die Wahlsystemen aufgegeben ist". Denn das Wahlsystem sei nicht nur dazu da, damit die Bürger zwischen den verschiedenen Parteien und deren Kandidaten auswählen können. Sondern dazu gehöre unter anderem auch die "Einfachheit und Verständlichkeit der Auswirkungen des Systems". Nohlen: "Das wird gerne übersehen von Leuten, die ein besseres Wahlrecht wollen, im Grunde aber nur eine der Funktionen bedienen wollen, weil sie nur die im Auge haben."

Es ist genau diese Balance, an der sich die Geister scheiden - am Ende bleibt es eine Glaubensfrage. Die Aktivisten von "Mehr Demokratie" sind davon überzeugt, dass es gut ist, wenn die Bürger auf alle wichtigen Fragen möglichst viel Einfluss haben: auf Gesetze, auf die staatlichen Haushalte und eben auch auf die Zusammensetzung der Parlamente. Aber wie viel Einfluss wäre zu viel? Und was ist mit den Bürgern, die gerne einen übersichtlichen Stimmzettel hätten und sich nicht mit Details beschäftigen wollen?

Mit Details wie dem neuen Erststimmensystem etwa, das "Mehr Demokratie" vorschlägt. Mit der Erststimme können die Wähler derzeit einen Abgeordneten aus ihrem Wahlkreis direkt ins Parlament schicken. Wer die meisten Stimmen hat, gewinnt. In Zukunft aber sollen die Wahlkreise vergrößert werden, sodass nicht mehr ein nur Kandidat gewählt wird, sondern drei bis sieben.

Kleine Parteien profitieren

Dadurch sollen die Chancen für kleine Parteien und unabhängige Einzelbewerber auf ein Direktmandat steigen - in einem Wahlkreis mit sieben Abgeordneten reichen schon 12,5 Prozent der Stimmen, um ins Landesparlament zu ziehen. Dies würde faktisch jedoch zur Zersplitterung des Parlaments führen, denn in Berlin gilt: Wenn eine Partei nur in einem der Wahlkreise Berlins einen einzigen Direktkandidaten durchbringt, zieht sie in voller Stärke ihrer Zweitstimmen ins Parlament ein - auch wenn sie ansonsten an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern würde. Dass "Mehr Demokratie" diese Hürde auf nur noch 3 Prozent senken möchte, ist also in der Realität kaum relevant.

Das neue Wahlrecht im vollen Umfang zu nutzen ist aufwändig. Denn wer seine fünf Zweitstimmen und die Ersatzstimme an sechs verschiedene Parteien gibt und dann die derzeit aus bis zu 50 Kandidaten bestehenden Listen der Parteien komplett neu durchsortiert, hat schon bis zu 300 Stimmen quer durch das Wahlbuch mit seinen mehr als 40 Seiten zu verteilen. Wer dann noch in einem großen Mehrmandatswahlkreis wohnt, in dem alle Parteien bis zu sieben Direktkandidaten aufstellen können, kann bei seiner ganz persönlichen Wahl locker auf 350 Stimmen kommen.

Michael Efler verteidigt die Vorschläge seines Vereins: "Natürlich wird es immer Bürger geben, die damit überfordert sind, aber das Gros wird das annehmen. Es gibt Wahlsysteme auf der Welt, die noch deutlich komplizierter sind, aber trotzdem verstanden werden. Das ist eine Sache der Gewöhnung." So hat "Mehr Demokratie" auch einige Initiativen als Unterstützer gewonnen: von der Humanistischen Union über die DGB-Jugend und die BUND-Jugend bis zum Bund der Steuerzahler.

In den Parteien stoßen die Ideen - soweit sie überhaupt schon wahrgenommen wurden - auf wenig Gegenliebe. Am meisten Zustimmung gibt es noch bei den Grünen. "Wir sind da recht offen", sagt der Abgeordnete Benedikt Lux, der bei vielen Diskussionen in den Bezirksverbänden der Partei über das Projekt dabei war. Gerade für das Präferenzwahlsystem und die fünf Zweitstimmen gibt es in der Partei viele Sympathien.

Doch die Grünen haben auch Vorbehalte: Wenn die Wähler selbst bestimmen, wer ins Parlament zieht, fürchtet die Partei, dass sie ihre Quoten nicht mehr einhalten kann. Derzeit legt die Frauenquote fest, dass jeder zweite Listenplatz an eine Frau geht. Die Neuen-Quote bestimmt, dass jeder dritte Platz mit einem Parlamentsneuling besetzt wird. Und es gibt noch ein Problem für viele Grüne: "Durch die größeren Direktwahlkreise würden auch mehrere Kandidaten der Grünen in einem Wahlkreis gegeneinander antreten. Das stellen wir uns schwierig vor", sagt Lux. Man könne auch nicht flächendeckend parallel für mehrere Direktkandidaten auf Plakaten werben, um sie den Wählern bekannt zu machen. Lux würde sich daher wünschen, dass "Mehr Demokratie" für jede Forderung eine eigene Unterschriftensammlung macht.

Doch "Mehr Demokratie" lehnt diese Forderung ab - mit einer erstaunlichen Begründung. Michael Efler: "Man kann dem Bürger nicht abverlangen, sich durch die einzelnen Forderungen auf sieben oder acht unterschiedlichen Unterschriftenlisten durchzuarbeiten." Aber ein Wahlheft mit über 40 Seiten kann man dem Bürger zumuten? Na gut, schiebt Efler nach, es wäre auch für seinen Verein beim Unterschriftensammeln logistisch zu schwierig.

Kritik von der SPD

SPD-Fraktionssprecher Hannes Hönemann verweist darauf, dass seine Partei dafür gesorgt hatte, die direkte Demokratie durch Volksentscheide zu verankern: "Nachdem wir so die Mitbestimmungsmöglichkeiten stark ausgebaut haben, gibt es bei der SPD nicht den Eindruck, dass auch noch eine Änderung beim Wahlrecht notwendig wäre."

Bei der FDP hat Björn Jotzo ein Konzeptpapier mit seiner Bewertung der Ideen verfasst. Jotzo ist innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion und Rechtsanwalt, er kennt sich also mit komplizierter Materie aus. Doch in seinem Papier beschreibt und bewertet er nicht das Präferenzwahlsystem von "Mehr Demokratie", sondern das Kumulieren und Panaschieren nach dem Modell von süddeutschen Kommunalwahlen, bei denen die Wähler mehrere Stimmen haben, die sie auf einzelne Kandidaten verteilen oder bündeln können. Die beiden Systeme sind in einigen Punkten vergleichbar, aber in wichtigen Punkten auch anders.

Man darf Jotzo diesen Fehler nicht zum Vorwurf machen. Man darf fragen: Wie sollen die Wahlberechtigten ein Wahlsystem verstehen, das selbst einem Fachmann Probleme bereitet?

Kampagnen-Website von "Mehr Demokratie":
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