Jugend: Alles ganz anders

Beim Jugendumweltkongress diskutieren rund 150 junge Idealisten über Wasserversorgung und Protestaktionen gegen Gentechnik. Und sie leben zehn Tage lang genau so, wie sie es sich wünschen.

Auf den Flur dringen irritierende Töne, sie kommen von der Aula. Ob es ein Weinen oder Lachen ist, ist nicht zu trennen. Dann hört man ein Jammern. Jan dreht sich um, läuft mit drei anderen los, den Gang entlang, in die Aula hinein. Ein kurzer Blick, dann kehrt er mit einem Lächeln zurück: "Weinen, um Aufmerksamkeit zu erreichen - das wirkt sofort", sagt der 28-Jährige. In dem Saal probt das "Improtheater", wie in der Öffentlichkeit Interesse erzeugt werden kann - einer der Arbeitskreise während des Jugendumweltkongresses (Jukss) im Kultur- und Bildungszentrum Raoul Wallenberg (KuBiz) in Weißensee. Noch bis zum 5. Januar diskutieren die Teilnehmer dabei über Wasserprivatisierung und Abfallentsorgung, spielen Theater und planen Aktionen gegen Gentechnik.

Dabei geht es den Jugendlichen um mehr als die aktuellen Umweltprobleme. Seit 1993 gibt es den Kongress, seit 2000 findet er einmal pro Jahr statt. Aus ganz Deutschland, aus Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden reisen Jugendliche an, meist in einem Alter zwischen 16 und 26, sagt Jan. Er ist einer der Hauptorganisatoren in diesem Jahr. Die meisten arbeiteten in lokalen Umwelt-, Tierschutz- oder Naturschutzgruppen. Das Besondere am Jukss ist, dass die Jugendlichen den Kongress selbst organisieren. Fragt man nach dem zuständigen Organisator, kommt schon einmal mit vorwurfsvollem Unterton die Antwort zurück: "Wir sind hier alle Organisatoren!"

In diesem Jahr werden 150 Teilnehmer erwartet - nur halb so viele wie sonst, wegen der recht kurzfristigen Planung. Viele wollen nicht bloß diskutieren, sondern einen komplett anderen Gesellschaftsentwurf leben. Für zehn Tage im Jahr verabschieden sich die Jugendlichen von der Leistungs- und Konsumgesellschaft: "Wir bauen eine andere Wirklichkeit auf. Hier herrscht ein ganz anderes Gemeinschaftsgefühl", sagt Philip, der zum zweiten Mal einen Jugendumweltkongress besucht. "Nach dem Jukss fallen viele in ein Loch", ergänzt Jan. Es sei schon vorgekommen, dass Eltern sich beschwert hätten: "Mein Kind hört nicht mehr auf mich und will nicht mehr Anwalt werden."

Für 8.000 Euro haben die alternativen Jugendlichen die halb leer stehende ehemalige Schule in der Bernkasteler Straße in Weißensee gemietet, die mit ihrer Größe, den Giebeln und Seitentürmen aus den eintönigen Reihenhäusern hier heraussticht. Die Miete zahlen vor allem die Teilnehmer mit ihren Beiträgen selbst, unterstützt werden sie vom Naturschutzbund und vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND).

Durch eine Stahltür gelangen die Neuankömmlinge ins Innere an die "Infothek": In einer Decke eingewickelt sitzt dort der Kassierer - mit Dreadlocks und Hornbrille - vor einer Geldkassette, auf der ein Aufkleber mit der Schrift: "Capitalism stinks" klebt. Mal legt er 50 Euro, mal 25 Euro rein - je nachdem, wie lange jemand bleibt und wie viel er zahlen kann.

Eveline Reinke läuft die breite Treppe hinauf, an Dutzenden Transparenten vorbei, auf denen mit Filzstift die Seminare der Tage eingetragen sind. Die 31-Jährige hat bereits selbst einen Zettel mit dem Workshop "Massage für Kinder" angebracht. Zusammen mit ihrer Tochter ist sie aus Düsseldorf angereist. 1993 war sie das erste und bis dieses Jahr letzte Mal auf dem Jugendumweltkongress. "Die Szene" wollte sie einmal wieder treffen, sagt sie.

Nicht nur an der Themenauswahl sind alle beteiligt; auch alle sonstigen Entscheidungen werden basisdemokratisch und im Konsens gefällt: Wenn einer die Hand hebt und nicht von der Presse beim Theaterspiel beobachtet werden will, wird die aus dem Seminar ausgeschlossen. Die vier Teilnehmer der "Klozeitung" haben hingegen nichts gegen Öffentlichkeit. Gerade planen sie die erste Ausgabe, die - zwei DinA-4-Seiten groß - an den Toilettenwänden angebracht werden soll. Jan plädiert für das Thema: "Wieso steht noch nichts?" Die drei anderen finden die Idee gut und wollen "ein bisschen nett" über die chaotischen ersten Tage schreiben.

Besonders wichtig ist den Jukss-Aktivisten auch der Essensplan, welcher ausführlich diskutiert wird: "Plenum - bitte gerade nicht stören" steht auf einem Schild an einer Tür. Dort berate sich gerade das Küchenteam, sagt Jan. Gekocht wird ausschließlich vegan. Im kalten Vorratskeller riecht es nach Gemüseladen. "Es gibt einen natürlichen Ekel gegenüber rohem Fleisch", sagt Martin aus Hannover. Der 36-jährige Tierrechtsaktivist ist gerade erst angekommen. Ein wenig sieht er so aus wie der junge 68er Rainer Langhans. Von rohem Fleisch mache er oft Fotos, jüngst zu Weihnachten, "als es bei meinem Vater Hase gab". Ein Seminar biete er dazu selbst nicht an - obwohl das natürlich eine Idee sei: "Gibt es hier Farbdrucker?", fragt er.

Boris Langer ist gerade im Seminar "Statuettentheater" in Aktion: Zwei Mann versperren mit ihren ausgestreckten Händen einem anderen den Blick zur Seite. In Zeitlupenbewegung dreht sich jener aus der Umklammerung heraus, nimmt die beiden an der Hand, und am Ende tanzen alle im Kreis zusammen. "Es sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie aus Situationen der Unterdrückung herausgefunden werden kann", erklärt Langer das abstrakte Bild, das seinen Ursprung in Augusto Boals "Theater der Unterdrückten" hat.

Auf seine Motivation angesprochen, hierherzukommen, guckt der 23-Jährige zunächst ein paar Sekunden durch seine Brille auf den Boden und sucht nach Worten. "Ich genieße die Freiräume dieses selbst organisierten Treffens, wo nicht alles vorgegeben ist, wo spontan etwas entstehen kann", sagt Langer, der sich sonst ehrenamtlich für Naturschutz einsetzt. Das erprobte Theaterspiel wolle man demnächst in der Öffentlichkeit aufführen - spontan, um möglichst viel Irritation hervorzurufen, erklärt Philip, der mitgespielt hat.

Spontan geht es sogar in den Duschen zu: "Wir geben jedem die Intimsphäre, die er haben will, und machen auf die Genderproblematik aufmerksam", sagt Jan. Jeder kann sich in einer Liste eintragen, mit wem er unter die Brause will - eine sogenannte Duschampel zeigt dann an, wer reindarf: ob Frauen, Männer, nur der Partner oder ausschließlich Leute, die Dreadlocks tragen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.