20 Jahre Mauerfall: 4. November 1989: Am Alex war das Volk los

500.000 Menschen sammeln sich am 4. November 1989 auf dem Alexander- platz und fordern einen demokra- tischen Sozialismus. Neben Oppositio- nellen kommen auch Systemfreunde zu Wort - und werden ausgebuht

4. November 1989 Demonstranten auf dem Alexanderplatz Bild: dpa

Von allen Seiten Ostberlins strömen die Menschen in Richtung Alex. Die Stimmung ist fröhlich ausgelassen, das Wetter mies und grau. "Bleibt auf der Straße! Beruhigt euch nicht!" - "Gibt es eine Mindestschamgrenze für unsere Wendekünstler?" - "Neue Männer braucht das Land!" Diese und ähnliche Parolen waren auf vielen Transparenten zu lesen. Es war die größte, nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR.

Am Morgen des 4. November zogen etwa 500.000 Menschen durch Ostberlin und sammelten sich auf dem Alexanderplatz. 22 Rednerinnen und Redner sprachen von einer Bühne. Die erste bei den staatlichen Behörden angemeldete Demonstration markiert gleichzeitig das Ende des Systems. Nur vier Tage später dankte die gesamte Besetzung des Politbüros ab.

Lothar Bisky, geboren 1941, studierte Kulturwissenschaften in Leipzig. 1963 wurde er Mitglied der SED, 1990 gehörte er der Volkskammer an:

"Mit zittrigen Knien bin ich zum Lastwagen und auf die Bühne. Vor vielen Menschen zu sprechen war ich zwar gewohnt als Dozent, aber das war dann doch was anderes. Ich habe alle Amtsinhaber in der DDR aufgefordert, sich demokratisch legitimieren zu lassen. Dazu fühlte ich mich berechtigt, ich hatte mich als Rektor der Filmhochschule auch wählen lassen. Und dann habe ich gefordert: Lasst die Studenten ran, sie sollen ihre Sachen in eigener Verantwortung machen dürfen. Dazu stehe ich auch heute noch, zu jedem Satz. Dann bin ich mit immer noch zitternden Knien wieder von der Bühne runter.

Ich war froh, dass ich mich nicht habe davon abbringen lassen zu sprechen. Freunde hatten vorher versucht, mich davon abzuhalten. Sie haben es gut gemeint, man wusste ja nicht, wie das ausgeht. Nach meiner Rede war ich kurz auf einen Kaffee in dem Café, in dem die anderen Redner waren. Ich kannte die meisten nicht. Was hatte ich mit Gysi zu tun? Zu Hause habe ich dann telefoniert und gehört, was weiter passiert ist. Meine Studenten waren auch auf dem Alex. Ich habe mir Sorgen gemacht, man wusste ja nicht, ob es nicht noch turbulent werden würde. Meine Familie hatte ich deswegen auch nicht mitgenommen. Aber ich war ja nicht allein, meine Studenten waren ja überall und filmten."

Annett Gröschner 1964 geboren. Von 1983 bis 1991 studierte sie Germanistik in Ostberlin und Paris. 1990 Mitbegründerin der Frauenzeitschrift Ypsilon.

"Ich war zu dem Zeitpunkt Teil einer Frauengruppe. Auf einem Flugblatt, das wir in der Nacht zuvor geschrieben hatten, stand sowas wie ,Die Frau gehört ins Rathaus'. Ich weiß noch, wie ich die Blätter verteilt habe, und ein Mann sagte zu mir: ,Jetzt wollen die Weiber ooch noch was.' Frauenfragen waren zweitrangig, unsere Forderungen kamen nicht so gut an.

An der Mollstraße waren zehn buddhistische Mönche, ich weiß nicht, wo die herkamen. Die hatten ihre orangenen Gewänder an, das sah ich zum ersten Mal. Ich glaube, es war dieses Orange, was in mir die Erinnerung an schönes Wetter an diesem Tag hinterlassen hat. Eigentlich war es ja grau. Von der Mollstraße hat man uns am Palast und dann links rumgeschickt, wir sollten nicht zur Mauer laufen. Das wäre ja fatal gewesen. Bis ich auf dem Alex ankam, waren Stunden vergangen, ich habe kein Zeitgefühl mehr von dem Tag.

Von den Rednern kann ich mich am besten an die erinnern, die wir ausgebuht haben. Also Günter Schabowski und Markus Wolf. Die Sprache war es, die mich am meisten beeindruckte an dem Tag: Diese befreite, ironische und entspannte Sprache hat mich glücklich gemacht. Man konnte dauernd lachen. Diese Sprache war danach auch sofort wieder weg. Und die Ironie hat mich erstaunt. Also nicht meine eigene, aber dass so viele plötzlich ironisch waren. Ich war hin und weg davon." Jens Reich, geboren 1939. Er studierte Molekularbiologie an der Humboldt-Uni und war ein Autor des Aufrufs "Aufbruch 89 - Neues Forum".

Jens Reich, geboren 1939. Er studierte Molekularbiologie an der Humboldt-Uni und war ein Autor des Aufrufs "Aufbruch 89 - Neues Forum".

"Ich habe weder vorher noch nachher vor einer solchen Menschenmenge gestanden - das hat mich ziemlich verunsichert. Und obwohl da eine halbe Million Menschen standen, war das keine graue Masse. Wenn man sich umschaute, konnte man jedes einzelne Gesicht erkennen. Und die Zwischenrufe. In der ersten Reihe waren Leute, die mich ausbuhten und hässliche Sachen riefen. Ich wusste nicht, wie man vor einer halben Million Menschen spricht, wenn die eigene Stimme aus dreißig Lautsprechern widerhallt. Spricht man schnell oder langsam? Laut oder leise? Das hat mich alles gehemmt.

Wir, die Redner und Organisatoren, hatten eine Kneipe für uns abgesperrt. Die Stimmung da drin war ganz anders als die auf dem Platz - den Riesenspaß draußen mit Performances und Parodien haben wir gar nicht mitgekriegt. Bei uns war es sehr angespannt. Wir wussten alle nicht, wann wir dran waren, und wurden hin und her kommandiert. Wir stolperten hinter ihnen her, aus der Kneipe raus, auf den Lkw und von dort auf die Bühne. Die Hochstimmung kam für uns erst hinterher. Nach meiner Rede stand ich draußen mit Bärbel Bohley. Markus Wolf kam zu uns und sagte, dass wir doch ab jetzt zusammenarbeiten müssten. Da ist Bärbel emotional hochgegangen, und wir haben uns abgewandt."

Joachim Tschirner, geboren 1948. Ab 1975 arbeitete er bei der Defa als Redakteur für Dokumentarfilme, ab 1980 als Regisseur.

"Ich befürchtete, dass wir am Alex keinen Parkplatz mehr bekommen würden. Also machten sich meine Familie, Freunde und ich morgens um halb neun von Pankow aus mit der U-Bahn auf den Weg in Richtung Alexanderplatz. Die Nervosität im Vorfeld war groß, es gab ja viele ungeklärte Fragen: Was machen wir, wenn da tausende Menschen kommen? Wir hatten uns in der Gruppe sogar noch überlegt, die Veranstaltung auf den Nachmittag zu schieben, weil das Warenhaus am Alex bis 14 Uhr offen hatte und wir den Leuten nicht auf den Wecker gehen wollten.

Als wir dann aus der U-Bahn stiegen, war das sehr aufregend, überall standen Menschen. Gegen Mittag stieg ich über einen Lkw-Hänger auf die Bühne. Ich hatte nichts dabei außer einem verschmierten Zettel mit Stichpunkten. ,Was sollte ich den Leuten überhaupt noch erzählen?', fragte ich mich. Als ich dann auf der Bühne stand, kam blitzartig die ganze Wut dieser Zeit in mir hoch, die einen dann auch in die Lage versetzt, vor so einer riesigen Menschenmenge zu reden.

Die Reaktionen auf den Text waren sehr direkt, es gab Ovationen. Dass gerade etwas Historisches passiert ist, war mir nicht klar. Das merkt man erst Jahre später.

Wir fuhren nach Hause, luden Freunde ein und blieben die ganze Nacht wach. Aber es war nicht die Zeit, sich zurückzulehnen: Es ging ja erst los."

"So viel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer und mit so viel Hoffnung." Die Schriftstellerin Christa Wolf gab die Stimmung wieder, bei Stephan Heyms Worten "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen", bricht die Menge in Jubel aus. "Sprechen ist nicht genug", sagt Heym - beim Sprechen ist es nicht geblieben.

Initiator der Kundgebung war das Neue Forum, das im September 1989 gegründete Oppositionsbündnis. Es meldete die Veranstaltung an und pochte auf das in der DDR-Verfassung verankerte, aber nie gewährte Grundrecht auf Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit.

Die Polizei trat kaum auf. Neben den oppositionellen Rednern wie Jens Reich, Christa Wolf und Jan Joseph Liefers traten auch der Generaloberst a. D. für Staatssicherheit, Markus Wolf, und der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, auf die Bühne. Die Idee dahinter war, Demokratie tatsächlich stattfinden zu lassen und also auch Befürworter des Systems auf die Bühne zu holen.

Im Neuen Forum hatte es Diskussionen über die Rednerliste gegeben, man war dann aber einig, dass die Systemfreunde sich selbst delegitimieren würden.

Das Publikum hat sie denn auch kaum zu Wort kommen lassen: "Die wurden ausgebuht", sagt Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums. Markus Wolf etwa bemühte sich, die Demonstranten davon zu überzeugen, dass die SED wandelbar sei: "Nur so, durch Überzeugung und harte, sehr harte Arbeit kann diese Partei ihre Rolle in der neuen Etappe unserer gesellschaftlichen Entwicklung spielen."

Eine neue Etappe sollte es geben - aber nicht so, wie Wolf es vermutlich gemeint hat.

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