NS-Zeit in Berlin: Das vergessene KZ mitten in der Stadt

Dass es in Lichterfelde ein Konzentrationslager gab, ist kaum bekannt. Steglitzer Schüler drehen jetzt einen Dokumentarfilm darüber.

Wenn Gerard de Ruiter von seinem Aufenthalt als junger Mann in Berlin erzählt, ist von Hunger, Entbehrung und Folter die Rede. De Ruiter hatte sich in seiner holländischen Heimat ab 1943 dem Widerstand gegen das NS-Regime angeschlossene, wurde nach seiner Verhaftung nach Deutschland verschleppt und im Konzentrationslager Lichterfelde interniert. Als Zwangsarbeiter musste er beim Bau des Reichssicherheitshauptamtes "für Führer, Volk und Vaterland" schuften. Auch Franz Josef Fischer kann sich mit seinen 92 Jahren noch sehr gut an seine Zeit im KZ-Lichterfeld erinnern. Eine Arbeit in der SS-Kleiderkammer rettete ihm das Leben - sonst hätte er die ständigen Demütigungen und Schläge vielleicht nicht ausgehalten, ist er sich noch heute sicher.

Bei Gerard de Ruiter und Franz Josef Fischer kamen in den letzten Tagen die Erinnerungen an ihre KZ-Haft wieder hoch. Mit sieben weiteren ehemaligen Häftlingen des KZ Lichterfelde standen sie eine Woche lang für einen 40-minütigen Dokumentarfilm Rede und Antwort. Die über 80-jährigen Männer waren trotz der Anstrengungen sofort dazu bereit. Schließlich waren es junge Menschen, die sich für ihre Geschichte interessierten.

Die Interviewer waren Schüler des Oberstufenzentrums für Bürowirtschaft und Verwaltung in Steglitz. In dem Stadtteil existierte von 1943 bis 1945 das Konzentrationslager Lichterfelde; es war eines von knapp 100 Außenlagern des KZ Sachsenhausen. Häftlinge aus 18 Nationen waren dort eingesperrt, die Mehrheit von ihnen waren Deutsche und Polen. Es handelte sich um politische Häftlinge, um Angehörige der Zeugen Jehovas, um aus rassischen Gründen verfolgte Sinti und Roma sowie um Menschen, die vom Regime als sogenannte Asoziale stigmatisiert worden waren.

Die meisten der sechs an dem Projekt beteiligten Schüler wussten vorher nichts von der Existenz dieses Lagers in ihrer unmittelbaren Umgebung. Der 18-jährige Melvin Lange hatte über den Leistungskurs Geschichte erstmals davon erfahren. Neben dem Wunsch, über ein bisher wenig bekanntes Kapitel der Steglitzer Geschichte zu informieren, war es auch die Arbeit mit dem Medium Film, die Melvin Lange zur Teilnahme an dem Projekt motiviert hatte. Im Laufe der Arbeit hat er sogar Anregung für seine berufliche Perspektive bekommen. Er will seine Ausbildung auf dem Sektor von Film und Neue Medien fortsetzen.

Sein Mitschüler Steve Kunze hingegen hat sich schon seit Jahren mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst. Mehrere seiner Vorfahren waren während der NS-Zeit in Konzentrationslagern inhaftiert. Deshalb hat er auch schon vor Jahren mit der Lektüre von Büchern über diese Zeit begonnen. "In der Schule bin ich bei Gleichaltrigen dabei häufig auf Desinteresse gestoßen", berichtet der Schüler. Doch beim Filmprojekt ist Kunzes historisches Wissen sehr gefragt.

Über die Existenz des Konzentrationslagers mitten in Berlin wird in der Nachbarschaft auch heute noch wenig gesprochen. Die Gleichgültigkeit, ja sogar Ablehnung der Umgebung haben auch die Projektteilnehmer gelegentlich zu spüren bekommen. Bei Filmaufnahmen vor Ort hätten Anwohner durch ihre Gesten und ihre Äußerungen deutlich gemacht, dass sie wenig von der Geschichtsaufarbeitung halten. Vielleicht wollen sich vor allem die Älteren unter ihnen der unbequemen Frage nicht stellen, vermuten die jungen Dokumentarfilmer.

Dass die Geschichte des KZ-Außenlagers überhaupt wieder Thema ist, kann sich die Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde als Erfolg verbuchen. Dort haben sich Anwohner zusammengeschlossen, die sich bereits seit zehn Jahren für ein angemessenes Gedenken an die Opfer des KZ einsetzen. Die Errichtung der Säule der Gefangenen und eine jährliche Gedenkfeier mit ehemaligen Gefangenen am 8. Mai gehören zu den bekanntesten Aspekten ihrer Arbeit. Doch der Mitbegründer der Initiative, der pensionierte Ingenieur Klaus Leutner, kann auch vom zermürbenden Kleinkrieg mit Bezirkspolitikern in Steglitz-Zehlendorf berichten. Mal habe das Geld für die Beleuchtung des Denkmals gefehlt, dann habe niemand für die Bestuhlung der Gedenkveranstaltung aufkommen wollen.

Leutner wünscht sich einen festen Ort, wo über die Geschichte des KZ Lichterfelde informiert wird. "Das Gebäude des ehemaligen SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes in Steglitz wäre ein geeigneter Ort", sagt er. Doch noch fehlt zur Umsetzung die Unterstützung aus der Politik und der Öffentlichkeit. Vielleicht wird der Zeitzeugen-Film die Debatte wieder anregen.

Bis zur Premiere geht für die Schüler die Arbeit weiter. Der Film muss geschnitten, Dokumente müssen eingearbeitet werden und eine Live-Sendung im Offenen Kanal Berlin in den nächsten Wochen vorbereitet werden. Der Medienpädagoge Daniel Abma vom Verein für Medien, Bildung und Kultur, der die Schüler bei dem Projekt betreut, macht sich aber schon über den Ort der Premiere Gedanken. "Er soll in Lichterfelde möglichst nahe am ehemaligen KZ sein", sagt Abma. Schließlich sollen die Anwohner mit der Geschichte konfrontiert und zu Diskussionen angeregt werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.