Berlins neuer Behindertenbeauftragter: Der Mann, der Barrieren abbauen soll

Jürgen Schneider ist der neue Landesbeauftragte für Behinderte. Die Erwartungen sind hoch: Er muss sich zum Beispiel um die Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen kümmern

Die Farbe an der Wand ist noch feucht. Das neue Büro von Jürgen Schneider in der Senatsverwaltung für Soziales in Mitte gleicht einer Baustelle, auf der sich zwar etwas tut, wo aber für vieles noch kein passender Platz gefunden wurde. So ähnlich ist es auch mit Schneiders Amt: Er ist seit Anfang Dezember der neue, noch bis Februar kommissarisch tätige Berliner Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung. Sein Vorgänger Martin Marquard ist bereits seit Anfang September im Ruhestand.

Schneider zieht seinen Schreibtischstuhl heran. Ohne den Stuhl mit Rollen gäbe es Probleme, sagt er. Er sei abgestimmt auf sein künstliches Gelenk an der Hüfte, das er infolge einer angeborenen Hüftgelenksfehlstellung bekommen musste. Bei Fragen zieht der hochgewachsene, schlanke 60-Jährige die Augenbrauen leicht zusammen. Kurz danach klärt sich sein Gesicht auf, er antwortet ohne Zögern, aber bisweilen mit langen, sperrigen Sätzen. Behindertenpolitisch möchte er sich dafür einsetzen, gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu erwirken. "Das Konzept der Inklusion kann langfristig nur dann richtig ankommen, wenn Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung die Ausnahme bleiben."

Fast zehn Jahre lang war Martin Marquard Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung. Seit Anfang September ist er im Ruhestand. Da seine Amtszeit erst am 20. Februar 2010 regulär endet, ist sein Nachfolger Jürgen Schneider bis dahin kommissarisch im Amt. Er hat seine neue Aufgabe am 1. Dezember angetreten.

Der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung wird vom gesamten Senat berufen, bei voller Mitbestimmung des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung. Er arbeitet "fachlich unabhängig und eigenverantwortlich". Dienstrechtlich ist er der Senatorin für Soziales direkt zugeordnet.

Laut Gesetz hat er darauf hinzuwirken, "dass die Verpflichtung des Landes, für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird".

Mit fein gerolltem r erzählt Schneider von seinem Werdegang. Aus Langenbach im Westerwald in Rheinland-Pfalz komme er ursprünglich. In der kleinen Gemeinde sei es selbstverständlich gewesen, dass Menschen mit Behinderungen vollintegriert am Leben teilnehmen. Er begann ein Lehre bei der Deutschen Bahn, brach sie aber ab; sein Studium der evangelischen Theologie in Marburg schmiss er kurz vor dem Abschluss. Volltheologe wollte er zu der Zeit nicht mehr werden.

Schneider wechselte lieber in die Politik- und Sozialwissenschaften. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit der Arbeitsvermittlung für Schwerbehinderte. Die Senatsverwaltung für Soziales wurde auf ihn aufmerksam, 1983 kam er nach Berlin. Seine Idee aus der Promotion wurde hier aufgegriffen, weiterentwickelt und Anfang der 90er-Jahre teilweise umgesetzt. Schneider leitet lange das Referat Behindertenpolitik, inzwischen arbeitet er seit 26 Jahren in der Verwaltung. Als Credo zitiert Schneider SPD-Gründervater Ferdinand Lassalle: "Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist."

Besonderen Wert will er bei seiner neuen Arbeit darauf legen, auf Augenhöhe mit Behinderten und ihren Verbänden zusammenzuarbeiten und sich der Gruppen anzunehmen, die durch keine starke Lobby vertreten werden. Dies ist auch eine Erfahrung aus den Konflikten, die er in seiner Laufbahn auszutragen hatte. Etwa mit Hugo Hoppe, heute Vorstandsmitglied des Berliner Behindertenverbandes (BBV). Er sei ihr Feindbild aus der Verwaltung in den 80ern und 90ern gewesen, erinnert sich Hoppe.

Schneider hatte zum Beispiel die umfangreiche Kürzung des Abgeordnetenhauses beim Telebus, dem Fahrdienst für Behinderte und einer der wichtigsten politischen Errungenschaften in diesem Bereich, im Jahr 1987 verkünden müssen. So wurde er für den BBV laut Hoppe das Gesicht "aus dem riesigem Verwaltungsmoloch". Ihn, der eine nicht sichtbare 40-prozentige Behinderung hat, sahen die Verbandsvertreter als Mitverantwortlichen.

Vielleicht lag das auch daran, dass Schneider von PR wenig hält. "Reine Bewusstseinsarbeit hat keinen langen Haltbarkeitswert. Man muss Fakten schaffen", sagt er. Doch auch, dass Schneider sich aktiv für barrierefreie Projekte einsetzte, wurde von seinen Kritikern gern übersehen. Seine Ende der 80er-Jahre organisierte Arbeitsgruppe "Bauen und Verkehr" gibt es noch heute. Er erstellte zusammen mit Betroffenen und Technikern vor Ort den Prototyp der barrierefreien "City-Toiletten". Und er war es, der Kauf und Herstellung der ersten Niederflurbusse durch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) initiierte. Die von ihm mit veranlassten "Leitlinien zum Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt" gelten noch heute als grundlegend.

Sein Vorgänger Martin Marquard findet es ungerecht, dass Schneider als Buhmann abgestempelt wurde. Mitarbeiter der Verwaltung müssten vertreten, was ihnen vom Abgeordnetenhaus an Beschlüssen aufgedrückt werde. Marquard kennt Schneider seit 22 Jahren. Er habe immer die fortschrittliche Behindertenpolitik vorangetrieben. "Er ist jemand, der auf unserer Seite steht", ist sich Marquard sicher.

Inzwischen hat der BBV seine Ressentiments abgelegt und entschieden, mit dem neuen Landesbeauftragten zusammenzuarbeiten. An dessen Ernennung kreidet er im Rückblick nur an, dass der Landesbeirat für Menschen mit Behinderung "nicht einmal" nachgedacht habe, ob er das Amt zusätzlich auch noch mit einem schwerbehinderten Menschen besetzen kann. Messen will der BBV den neuen Landesbeauftragten daran, inwieweit dieser verhindern könne, dass behindertenfreundliche Berliner Gesetze an ein niedrigeres bundesdeutsches Niveau angeglichen werden. "Schneider weiß, was auf ihn zukommt", sagt Hoppe.

Neue Arbeitsmodelle

Klar ist für Schneider, dass er sich in seiner Amtszeit des Themas Diskriminierung von Frauen mit Behinderung annehmen wird. Das fordert unter anderem die Berliner SPD-Fraktion von ihm. Auch gegenüber neuen Arbeitszeit- und Arbeitsplatzmodellen für Menschen mit Behinderung in der öffentlichen Verwaltung sei er offen. "Jede Möglichkeit ist auszuloten, um Menschen mit Behinderung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu bringen."

Dass Schneider für seine Arbeit auf vielen Baustellen gleichzeitig arbeiten muss, stört ihn nicht. Seine Aufgabe gehe er mit Leidenschaft an. "Wenn ich mich vollständig einbringe", sagt er, "werde ich kreativ und mir kommen gute Ideen."

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