Stadtforscher über Berliner Lebensgefühl: "Die Laune ist gut"

Der Stadtforscher Rolf Lindner über prekäres Wohlgefühl und fehlenden Karrierezwang.

ROLF LINDNER, 62, ist Stadtforscher am Institut für Europäsische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin

taz: Herr Lindner, die Hertie-Studie fand heraus, dass die Berliner glücklich mit ihrer Stadt sind - obwohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schlecht sind. Überrascht Sie dieses Hochgefühl?

Rolf Lindner: Das überrascht mich nicht, obwohl ich die Studie im Detail nicht kenne. In Berlin hat man sich schon immer in prekären Verhältnissen wohlgefühlt. Schon in den Zwanzigern waren die Laune gut und die Verhältnisse bescheiden. Das größte Kapital Berlins ist kein reales, wie Arbeitsplätze oder Karrierechancen. Sondern ein symbolisches.

Worin besteht dieses symbolische Kapital?

In der liberalen Atmosphäre. Im Gegensatz zu Hamburg oder München pflegt man in Berlin das legere Leben. Man muss sich von außen verordneten Kriterien wie Wohlstand und Outfit nicht so sehr unterordnen. Hier hat selbst die kleine Oberschicht einen proletarischen Touch. Sie tritt zurückhaltend auf, um sich nicht zu sehr abzuheben vom Rest der Bevölkerung.

Die ist größtenteils "arm, aber sexy": Ist das Klischee also wahr?

Berliner zu sein war schon immer eine Lebensentscheidung. Man zieht nicht her oder bleibt, um Karriere zu machen. Sondern um Lebensentwürfe zu realisieren, die woanders nicht im Angebot sind. Als Metropole zog Berlin stets Bohemiens und andere Freigeister an. Nach dem Mauerbau wurde es Hauptstadt der Selbstverwirklichung. Im Westteil wurden im Schatten der Mauer alternative Konzepte ausgelebt. Auch Ostberlin hatte einen Nimbus in Künstlerkreisen. Bis heute gibt es Milieus, die man woanders in dieser Stärke nicht findet.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie die Schwulen- und Lesbenszene. Oder die Kultur der Wagenburgen, die finden Sie auch in Paris oder London nicht. Diese Vielfalt ist durch Gentrifizierungsprozesse zunehmend bedroht. Dabei ist sie Berlins größte Stärke.

INTERVIEW: NINA APIN

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