Einheitsschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule: Die Neunzigprozentigen

Die Fritz-Karsen-Gesamtschule ist eine der wenigen Einheitsschulen Berlins. Auch am Modellprojekt "Gemeinschaftsschule" wird sie teilnehmen. Der Widerstand im Kollegium war überraschend stark.

Moritz Stiefel ist versetzungsgefährdet und erschießt sich. Wendla Bergmann ist 14 und schwanger. Doch das eigentlich Schockierende ist: "Die war in der neunten Klasse noch nicht aufgeklärt, wir hatten sexuelle Aufklärung in der vierten. Daran sieht man, dass früher vieles anders war", schließt Dominik sein Resümee über das Stück "Frühlingserwachen".

Sie stehen zu dritt vor der Klasse - Dominik, Peter und Florian. Die Deutschstunde gehört heute den Schülern, sie sollen die hundert Jahre alte Kindertragödie von Frank Wedekind ihren Klassenkameraden nahebringen. Keine leichte Aufgabe, denn die Hälfte der Klasse hat stattdessen Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" gelesen, ein pädagogischer Kniff ihrer Klassenlehrerin Elke Meier: "So redet man miteinander mal über Bücher."

Zudem variiert das Lerntempo der Mitschüler stark - in der zehnten Klasse der Fritz-Karsen-Schule sitzen Schüler, die nach diesem Schuljahr mit dem erweiterten Hauptschulabschluss abgehen werden, neben solchen, die ihre Gymnasialempfehlung schon fast in der Tasche haben. Doch das betrachten die drei Zehntklässler nicht als Problem. Sie kennen es schließlich nicht anders, seit sie vor drei Jahren von ihren Grundschulen auf die Gesamtschule im Neuköllner Ortsteil Britz wechselten.

Die nach dem Reformpädagogen Fritz Karsen benannte Einrichtung ist Berlins älteste integrierte Gesamtschule. Die Hälfte der Schüler verbringt hier schon ihre Grundschulzeit. Auch sie werden nach der Sechsten nicht in Haupt-, Realschüler und Gymnasiasten sortiert, sondern bleiben als Klasse zusammen.

"Behandelt die Menschen so, als wenn sie schon so wären, wie ihr sie haben wollt - das ist der einzige Weg, sie dazu zu machen. Goethe." Der Satz des deutschen Dichters hängt über der Tür zum Lehrerzimmer, und er hängt dort für vieles, woran Lehrer und Schüler seit fast 60 Jahren glauben: dass Schüler unterschiedlich schlau sind und trotzdem zusammen lernen können. Dass blitzgescheite und behäbige Denker sich ergänzen und voneinander profitieren. Dass Unterschiede produktiv sind.

Seit die Schule 1948 als Reform-Einheitsschule gegründet wurde, haben Eltern, Lehrer und Schüler dieses Credo verteidigt: 1951, als das dreigliedrige Schulsystem eingeführt wurde, blieb sie Schule besonderer Prägung, 1982, als die Kultusminister verfügten, dass Schüler der Sekundarstufe I in den Kernfächern nach Begabungen getrennt zu unterrichten seien, erhielt "die Fritz Karsen" eine Ausnahmegenehmigung. Im Jahr 2008 wird die Schule eine von zwölf Gemeinschaftsschulen.

Zu 90 Prozent ist sie bereits "Schule für alle": Kaum einer wird wegen schlechter Leistungen zurückgestuft, die Schüler bleiben auch in Fächern wie Deutsch und Naturwissenschaften zusammen, die für den Mittleren Schulabschluss prüfungsrelevant sind. Wer Nachholbedarf hat, muss einen Förderkurs belegen, wer gut ist, darf unter den Ergänzungkursen wählen. Der letzte Schritt wird sein, Schüler der Klassen acht bis zehn auch in Mathe und Englisch zusammen zu unterrichten.

Dass die Fritz-Karsen-Schule sich als Gemeinschaftsschule beworben hat, ist ein Glücksfall für die Regierungsparteien SPD und Linke. Im Koalitionsvertrag haben sie festgelegt, die Schule für alle als Pilotprojekt einzuführen, um das dreigliedrige Schulsystem zu überwinden. Die Karsen-Schule ist eine der wenigen Berliner Schulen, die beweisen, dass gemischte Lerngruppen bis zur zehnten Klasse tatsächlich funktionieren, ohne Extrastunden und zusätzliches Personal. Sie wird das Vorzeigeobjekt für den ideologisch überfrachteten Kahn "Gemeinschaftsschule".

"Unsere Schüler wissen, wie man lernt." Elke Meier beobachtet Dominik, Robert und Fabian von ihrem Sitzplatz in der letzten Bank aus. Die drei übersetzen Wedekind für ihre Mitschüler ins 21. Jahrhundert. Sie haben eine Umfrage vorbereitet, die Jugendlichen sollen ihr Verhältnis zu den eigenen Eltern reflektieren. Bei wem sind beide Eltern noch zusammen? - Acht Meldungen. Wessen Mutter oder Vater ist alleinerziehend? - Elf Arme heben sich. Wann sie zuletzt mit ihren Eltern etwas unternommen haben? Ein heikler Punkt. Benni hat schon seit einem halben Jahr nichts mehr mit der Familie unternommen, und er bereut es nicht. "Wie, ich hab euch doch erst letztes Wochenende alle zusammen getroffen." - "Also da hatte mein Bruder Geburtstag, das zählt nicht."

Die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen und weiterzugeben, ist eine der Grundvoraussetzungen für das Lernen in gemischten Klassen. Das funktioniert nur, wenn Schüler nicht abschalten, sobald die Lehrerin den Blick abwendet. Die Jugendlichen, die in der 7. Klasse neu an der Fritz-Karsen-Schule aufgenommen werden, lernen deshalb erst mit Karteikarten und Folien umzugehen, vor der Gruppe zu reden und Aufgaben zu verteilen. Sie lernen zu lernen, eigenverantwortlich und im Team.

Letzte Woche wurde der Physiktest zurückgegeben: Eine Stunde hätten sie danach untereinander die Arbeit ausgewertet, erzählt Leila. Die starken Schüler hätten den schwachen die Aufgaben erklärt. "Ich würde nicht schwache und starke Schüler sagen, eher solche, die schneller, und solche, die langsamer kapieren", meint Beate. Okay, Leila nickt. "Auf jeden Fall ziehen wir uns gegenseitig hoch."

Kinder, die langsamer lernen, können von den Einser-Schülern profitieren. Das akzeptieren Eltern. "Der Erfolg der Gemeinschaftsschule wird aber davon abhängen, ob es gelingt, den guten Schülern ein Angebot zu machen", sagt Schulleiter Robert Giese. Er weiß, dass es zu schaffen ist: Bei den berlinweiten Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss schneiden die Zehntklässler der Fritz-Karsen-Schule überdurchschnittlich gut ab. Er weiß auch, dass die Schule von nun an noch stärker unter Beobachtung stehen wird. Er selbst kann mit Druck umgehen. Gegen den Widerstand der Schulverwaltung hat er Schreibtisch und Computer vor eineinhalb Jahren von seinem Vorgänger übernommen. Der sitzt mittlerweile im Beirat des Senats, der die Gemeinschaftsschulen berät. Als Nachfolger hat Giese stellvertretend für die Schule Interesse signalisiert, bei dem Pilotprojekt mitzumachen.

"Die Diskussionen, die folgten, waren kontrovers." Der heftige Gegenwind im Kollegium habe ihn überrascht, sagt Giese. Die Vorbehalte gegenüber der Einheitsschule kamen auch bei den reformfreudigen LehrerInnen hoch. Bedenken wurden laut, ob unterschiedlich begabte Schüler tatsächlich in letzter Konsequenz zusammenpassen. Die Furcht wurde geäußert, in den Ruch der Restschule zu geraten und bildungsbewusste Eltern zu verlieren.

In der Schulkonferenz stimmten die Lehrer und Lehrerinnen nur sehr knapp pro Gemeinschaftsschule. Nicht das ausschlaggebende, aber ein wichtiges Argument seien die 7.000 Euro gewesen, die die Schule jedes Jahr zusätzlich für Fortbildungen und Umbauten erhält, sagt der Schulleiter. Spannungen werde es weiterhin geben, sagt Giese. "Aber Widersprüche sind gut, sie schaffen Bewegung."

Giese ist dialektisch geschult, er hat seine Laufbahn als Lehrer 1983 in Hellersdorf begonnen, wo er noch heute wohnt. Die Gemeinschaftsschule ist für ihn auch ein Stück sozialer Geborgenheit: "Es wird oft unterschätzt, wie wichtig feste Strukturen für den Lernerfolg sind."

Diesen Satz würde auch Elke Meier bejahen. Verena zum Beispiel. Ihre schulischen Leistungen sind bescheiden, aber keine betreut so zuverlässig wie sie das Klassenbuch. "Die wäre an der Hauptschule verraten und verkauft, bei uns wird sie aufgefangen." Nie würde Meier ihre Zehnte gegen eine Gymnasialklasse eintauschen. "Am Gymnasium wird gesiebt, nicht differenziert." Trotzdem war sie gegen das Projekt Gemeinschaftsschule. Wie soll sie der einen Hälfte einer zehnten Klasse quadratische Gleichungen erläutern, während die andere noch Bruchrechnen übt? Meier glaubt nicht, dass es klug ist, auf jegliche Sortierung nach Begabung zu verzichten. Und schaut dabei nach vorn: "Wir brauchen noch mehr Differenzierung im Unterricht. Noch gelingt es nicht, jeden in seinen Fähigkeiten zu fördern."

In dieser Selbstkritik ist sie sich wiederum einig mit Schulleiter Giese. Der glaubt, dass die Gemeinschaftsschule neue Möglichkeiten eröffnen wird. Einen Rückfall in die Grabenkämpfe, die in den 70er-Jahren um die Gesamtschule ausgefochten wurden, befürchtet er nicht. Spätestens seit Pisa seien die Schulen aufgewacht. "Jetzt muss es weitergehen."

* Namen der Schüler geändert

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