Interview mit Drogenhelferin: "Die Stimmung ist aufgeheizt wie nie"

Die Abhängigen am Kottbusser Tor brauchen einen Aufenthaltsraum, meint Astrid Leicht von der Drogenhilfe Fixpunkt. Doch die Debatte werde künstlich hochgekocht.

taz: Frau Leicht, über die Drogenszene am Kottbuser Tor ist ein heftiger Streit entbrannt. Welche Abhängigen treffen sich dort?

Astrid Leicht: Die klassische Kotti-Klientel besteht aus rund 300 Leuten. Aber die sind nie alle auf einmal da. Das Stammpublikum wird von rund 100 Leuten gebildet. Es handelt sich um schwerst opiatabhängige Menschen. Der Kotti ist ihr Treffpunkt. Es ist der einzige soziale Treffpunkt für Heroinabhängige, der in Berlin noch existiert.

Was ist aus den anderen geworden?

Vor zehn, zwanzig Jahren gab es noch Treffpunkte wie die Potsdamer Straße, den Bahnhof Zoo oder die Turmstraße. Aber das waren Mischungen aus sozialem Treffpunkt und Handelstreffpunkt. Mit der Verbreitung des Mobilfunks hat sich der Handel weitgehend in die U-Bahn verlagert. Dadurch haben sich die Treffpunkte mehr oder weniger aufgelöst.

In der Drogenhilfe hat sich in den vergangenen 20 Jahren viel getan. Früher gab es das sogenannte "Clean-Dogma": Heroinabhängige, die nicht bereit waren, einen Entzug zu machen, bekamen keine Hilfe. Die Folge war, dass viele Junkies von der Drogenhilfe überhaupt nicht erreicht wurden. Mit der Verbreitung von HIV und Aids hat sich das geändert. Angefangen mit der Spritzenvergabe und der Substitution wurden suchtbegleitende und schadenmindernde Maßnahmen eingeführt. Allerdings mussten dafür die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Der § 29 Betäubungsmittelgesetz (BtMG), der die Spritzenvergabe unter Strafe stellte, wurde erweitert. Neu eingeführt wurden der Paragraf 31a - danach kann von Strafverfolgung bei geringen Drogenmengen zum Eigenverbrauch abgesehen werden - und Paragraf 10a, der die Einrichtung von Drogenkonsumräumen straffrei stellt.

Im Jahr 2003 ging in Berlin das erste Fix-Mobil in Betrieb, wenig später wurden zwei Drogenkonsumräume in der Stadt eröffnet. Gegen die "Birkenstube" im Wedding gab es anfangs einen riesigen Bürgerprotest. Heute führt der Konsumraum ein unauffälliges Dasein. In Kreuzberg verhält es sich andersherum. Nachdem es dort jahrelang kaum Probleme mit der Nachbarschaft gab, macht seit Oktober eine Bürgerinitiative gegen die Junkies mobil.

In Berlin gibt es rund 8.000 Heroinabhängige. Die Zahl ist seit Jahren stabil. 3.500 Abhängige sind in Substitutionsbehandlung und leben weitgehend normal. Für Aufregung in Kreuzberg sorgt eine aus 300 Menschen bestehende Gruppe Schwerstabhängiger. Die sogeannte Kotti-Szene trifft sich dort seit 20 Jahren. Die meisten leben in Kreuzberg und Neukölln und sind auf Hartz IV angewiesen.

Was unterscheidet die Drogenabhängigen am Kotti von anderen Heroinabhängigen?

Berlin hat rund 8.000 Heroinabhängige, zirka 3.500 werden mit Methadon substituiert. Die Substitution hat seit Mitte der 90er-Jahre stark zugenommen. Methadon wird oral verabreicht. Bei vielen Abhängigen ist das Suchtverlangen dadurch gestillt. Bei der klassischen Kotti-Klientel ist das anders: Viele Leute dort haben eine zunehmende Alkoholproblematik entwickelt. Dazu werden Tabletten und Drogen aller Art konsumiert. Sie sind schwer mehrfach abhängig.

In was für einem Zustand sind diese Menschen?

Durch die Methadonsubstitution sind Drogenabhängige heutzutage gesundheitlich besser beieinander als früher. Deshalb werden sie auch älter als noch vor einiger Zeit. In der Kotti-Szene gehen viele auf die 50 zu. Dass sie ihr Leben lang Drogen genommen haben, sieht man ihnen natürlich trotzdem an. Das ist kein schönes Bild.

Wie ist das Verhältnis von Männern zu Frauen, von Migranten zu gebürtigen Deutschen?

80 Prozent sind Männer. Der Migrantenanteil beträgt 30 Prozent. Die Drogenabhängigen nichtdeutscher Herkunft kommen überwiegend aus dem türkisch-arabischen Raum, auch russischsprachige Abhängige sind zunehmend vertreten, punktuell auch polnische.

Werden die Anwohner von den Junkies körperlich bedroht und belästigt?

Es gibt Einzelfälle. Aber nach unserer Beobachtung geht von den Konsumenten ein relativ geringes Aggressionspotenzial aus. Das deckt sich mit dem, was wir von der Polizei hören. Auch von anderer Seite ist zu hören, dass die Aggressivität eher von den jungen Männern aus dem Kiez ausgeht, die Anabolika nehmen, als von den Heroinabhängigen.

Wie lange existiert der Szene-Treffpunkt schon am Kotti?

Er ist in den 80er-Jahren im Zuge der Hausbesetzerzeit entstanden. Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, haben ihn etabliert. Zuerst haben sich die Punker auf dem Platz getroffen. Dann kam die Drogenszene hinzu. Es gibt dort auch eine Trinkerszene, die sich teilweise mit der Drogenszene mischt. Es ist der Toleranz der Kreuzberger Bevölkerung hoch anzurechnen, dass diese Menschen dort nicht vertrieben worden sind.

Aber nun ist es offenbar mit der Toleranz vorbei.

Ich bin seit 15 Jahren am Kottbusser Tor tätig und habe viele Debatten um die Drogenszene erlebt, aber so aufgeheizt wie jetzt war die Stimmung noch nie. Die Situation für die Anwohner hat sich zweifelsohne zugespitzt, seit das Parkhaus im Neuen Kreuzberger Zentrum im vergangenen Sommer geschlossen wurde. Aber sie ist längst nicht so schlimm wie Mitte der 90er.

Im Parkhaus ist viel gedrückt worden. Seit es geschlossen wurde, gehen die Junkies wieder vermehrt in die Hinterhöfe und auf Spielplätze.

Das ist eine große Belastung für die Umgebung, keine Frage. Aber was die Faktenlage betrifft, wird das Ganze einfach hochgekocht. Man könnte die Probleme, die die Drogenabhängigen verursachen, mit ganz praktischen, transparenten Mitteln lösen.

Wie denn?

Wenn man möchte, dass die Drogenabhängigen nicht mehr auf der Straße herumstehen und sich Anwohner und Passanten von ihnen belästigt fühlen, braucht man Räumlichkeiten, wo sich die Menschen treffen und auch ihr Bier trinken können, natürlich unter Beachtung bestimmter Regeln, auch Sicherheitsregeln. Wir benötigen in Kreuzberg auch Räume für den Drogenkonsumraum. Der jetzige Raum "Ska" in der Dresdner Straße ist Fixpunkt ja zu Ende März gekündigt worden. Der Laden war aber ohnehin zu klein und hatte zu kurze Öffnungszeiten.

Und warum wird das Problem nicht gelöst?

Es gibt eine Vielzahl von Akteuren, die aber gänzlich unterschiedliche Ziele verfolgen. Man hat den Eindruck, dass auf dem Rücken der Drogenabhängigen ganz andere Interessen ausgetragen werden.

Welche Interessen denn?

Was ich so alles zu hören bekomme, welche Person oder Gruppierung warum die eine oder andere Position vertritt, übersteigt mein Fassungsvermögen. In Berlin gab es eigentlich immer den Konsens, dass Drogenpolitik nicht zu parteipolitischen Zwecken missbraucht wird - aber diesen Eindruck hat man jetzt. Auch viele Kreuzberger sind entsetzt. Wir kriegen ganz viele Anrufe und Mitteilungen. Das, was in Kreuzberg passiert, ist für den Bezirk einmalig. Es ist allerhöchste Zeit, die Diskussion zu versachlichen.

Der Stadtrat für Gesundheit hat im Zuge der Diskussion gesagt, man könnte zurzeit mit einem Sack Gold durch Kreuzberg laufen, aber einen Laden werde man nicht finden.

Daran sieht man, wie aufgeheizt die Stimmung ist. Der Laden wird nicht als Teil einer Lösung empfunden, sondern als Teil des Problems. Dabei geht es uns gerade darum, die Drogenabhängigen mit Alternativangeboten zu motivieren, das Szeneleben zu verlassen.

In Frankfurt und Hamburg bekommen Schwerstabhängige im Rahmen eines Modellprojekts kontrolliert Heroin verabreicht.

Berlin hat sich an dem Projekt in der Vergangenheit aus Kostengründen nicht beteiligt. Ich gehe davon aus, dass sich das ändern wird, wenn die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen auf Bundesebene geschaffen sind. Wir hoffen, dass der Gruppenantrag von SPD, Grüne, FDP und Linkspartei noch vor der Bundestagswahl verabschiedet wird. Für die Personen am Kottbusser Tor wäre eine Substitution mit Diamorphin - so wird Heroin ideologiefrei medizinisch bezeichnet - eine realistische Chance zum Ausstieg aus dem Szeneleben.

Was würde das verändern?

Das Besondere an der Kotti-Klientel ist doch, dass das Methadon bei vielen nicht in der gewünschten Form anspricht. Das Heroin würde bei den schwer mehrfach Abhängigen das Suchtverlagen aber stillen. Dadurch würden sie wieder ansprechbar für die Angebote der Drogenhilfe. Das würde auch den öffentlichen Raum entlasten. Es wäre auf alle Fälle einen Versuch wert.

Welche Position vertritt das Quartiersmanagement Kottbusser Tor in dem Konflikt?

Das Quartiersmanagement war bei allen Treffen dabei, die wir wegen unseres Drogenkonsumraums mit Bezirk, Senat und Polizei hatten. Aber es ist bislang nicht mit aktiven Vorschlägen in Erscheinung getreten.

Wie kommt das?

Das müssen Sie das Quartiersmanagement fragen. Ich habe dazu keine Begründung gehört.

Zurzeit sieht man am Kottbusser Tor auffällig viele Polizeiuniformen.

Die Bürger wollen das so. Das ist auch so ein Paradox: Bislang war die Polizei in Kreuzberg nie gewollt. Nun schiebt sie in zehnfacher Präsenz Streife. Das Problem ist: Dadurch, dass die Beamten sichtbar in Grün auftreten, können sie überhaupt nicht mehr effektiv arbeiten, weil die Dealer da alle wegrennen.

Astrid Leicht, 44, ist Leiterin von Fixpunkt. Sie arbeitet seit 15 Jahren für den Freien Träger der Drogenhilfe. Mit 25 Mitarbeitern gehört das Projekt eher zu den kleinen der Zunft, hat aber im niedrigschwelligen Bereich die meisten Angebote. Fixpunkt betreibt fünf Fix-Mobile, ein Beschäftigungsprojekt und zwei Kontaktläden: "Druckausgleich" in Neukölln und den Drogenkonsumraum "Ska" in Kreuzberg

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