System gegen Vernachlässigung geplant: Die zentral gesteuerte Kleinkindkontrolle

Für die Hausbesuche bei jungen Eltern haben die Bezirke zu wenig Geld. Um keine Vernachlässigung zu übersehen, plant der Senat nun ein Kontrollsystem, damit die Kinder zum Arzt geschickt werden.

Spaß machen Untersuchungen nicht - können vielleicht aber vor Vernachlässigung bewahren Bild: ap

Susanna Polke klingelt an einem Neubau unweit des Obersees in Hohenschönhausen. Polke ist Sozialarbeiterin vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und hat ihren Besuch angekündigt. Nicole Gabronsky öffnet die Tür, sie hat vor acht Wochen Zwillinge bekommen. Die Sozialarbeiterin wirft kurz einen Blick auf die schlafenden Babys, bevor die beiden Frauen sich ins Wohnzimmer setzen. Die 30-jährige Mutter erzählt von der schweren Geburt, dem Kaiserschnitt und dass die Kinder acht Wochen zu früh geboren wurden.

Den Eltern gratulieren, sie über Angebote im Bezirk informieren und ihnen Anlaufstellen nennen, falls sie Hilfe brauchen - dafür sind die Besuche der Sozialarbeiter seit Jahrzehnten da. Doch nachdem in den vergangenen Jahren immer mehr Fälle von Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern bekannt wurden, sind die Besuche auch zum wichtigen Instrument für den Kinderschutz geworden. Die zweite Präventivmaßnahme sind die freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen. Damit mehr Eltern ihre Kinder untersuchen lassen, will der Senat mit einem neuen Kinderschutzgesetz im nächsten Jahr eine zentrale Kontrollstelle einrichten. Die kostet Geld. Geld, das laut Kritikern lieber den Bezirken für Ersthausbesuche gegeben werden sollte.

Einer der Zwillinge fängt an zu quengeln. "Die haben gerade Probleme mit der Verdauung", erklärt die Mutter. "Haben Sie es mit Bauchmassagen versucht?", fragt Susanna Polke. Dann überreicht sie ihr eine Informationsmappe des Bezirks und fragt, ob sie schon Kinder- und Elterngeld beantragt habe. Die Sozialarbeiterin erzählt Nicole Gabronsky, dass beim Kinder- und Jugendgesundheitsdienst in ein paar Wochen eine neue Mutter-Kind-Gruppe beginne. Zudem solle sie sich am besten schon jetzt im Schwimmbad für einen Babyschwimmkurs anmelden, weil die immer total ausgebucht seien.

Susanna Polke arbeitet seit 32 Jahren als Sozialarbeiterin und hat in Hohenschönhausen schon Tausende solcher Ersthausbesuche gemacht. Eigentlich sollen alle Eltern, die ihr erstes Kind bekommen, besucht werden. Doch die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste kommen dieser Pflicht nicht nach, da die Bezirke auch im Gesundheitsbereich sparen. Im vergangenen Jahr wurden in Lichtenberg immerhin noch 80 Prozent der Eltern besucht, derzeit schaffen die sieben Sozialarbeiterinnen gerade noch etwa 65 Prozent. "Um unseren Aufgaben nachzukommen, bräuchten wir doppelt so viel Personal", erklärt Claudia Wein, Leiterin des Gesundheitsamtes Lichtenberg.

In anderen Bezirken sieht es noch schlechter aus: In Neukölln werden derzeit nur die Hälfte aller Eltern besucht. In Tempelhof-Schöneberg liegt die Quote bei 60 Prozent, die Tendenz ist auch hier fallend. "Durch den Geldmangel muss ich Personal im Gesundheitsbereich sparen, das wird auch am Kinder- und Jugendgesundheitsdienst nicht spurlos vorübergehen", prophezeit die Sozialstadträtin des Bezirks, Sibyll Klotz (Grüne).

Susanna Polke geht mit der jungen Mutter in Hohenschönhausen einen Gesundheits-Fragebogen durch. Wie viel wiegen die Kinder? Wie groß waren sie bei der Geburt? Wurden sie beatmet? "Haben die Kinder die U1 bis U3 schon?", fragt die Sozialarbeiterin. "Ja, die U3 war gerade diese Woche", sagt Nicole Gabronsky.

U1 bis U9 heißen die Untersuchungen, die in den ersten sechs Lebensjahren des Kindes vorgesehen sind. Eventuelle Fehlentwicklung oder Erkrankung können so dem Kinderarzt frühzeitig auffallen. Seit 1971 werden die Vorsorgeuntersuchungen von den Krankenkassen übernommen. Wie auch die Hausbesuche sollen sie helfen, Anzeichen für Vernachlässigung oder Misshandlung rechtzeitig zu erkennen. Doch je älter die Kinder werden, umso weniger Eltern gehen mit ihnen regelmäßig zum Arzt. Deshalb haben viele Bundesländer Kontrollsysteme für die Teilnahme eingeführt.

Das Saarland hat die Untersuchungen sogar zur Pflicht gemacht. Auch die Berliner CDU fordert seit Jahren, Eltern zu den Kinderchecks gesetzlich zu verpflichten. Die rot-rote Koalition in Berlin will die Teilnahme jedoch nur "verbindlich" machen, das heißt, Eltern sollen durch Kontrollen dazu ermahnt werden, zu den Untersuchungen zu gehen. Das sieht der Entwurf eines geänderten Kinderschutzgesetzes vor, auf den sich die Koalitionäre im Oktober geeinigt haben. Bei der letzten Plenarsitzung im Dezember soll das Gesetz verabschiedet werden. Es sieht eine zentrale Stelle am Uniklinikum Charité vor. Sie soll kontrollieren, ob Eltern ihre Kinder zu den Früherkennungsuntersuchungen bringen. Mitte nächsten Jahres soll sie ihren Betrieb aufnehmen.

Das Verfahren soll so funktionieren: Bereits seit einigen Jahren erhält jedes Neugeborene eine sogenannte Screening-ID, eine Nummer zur Identifikation, unter der es in der Charité registriert wird. Künftig sollen Aufkleber mit dieser Nummer in das gelbe Vorsorgeheft eines jeden Kindes gelegt werden. Gehen Eltern mit ihrem Kind zum Arzt, klebt dieser den Aufkleber auf ein Formular und schickt es an die Charité. Erscheinen die Eltern nicht beim Arzt, erhalten sie einen Brief mit der Aufforderung, zur Vorsorge zu gehen. Passiert daraufhin nichts, schaltet die Charité das Gesundheitsamt ein. Dessen Mitarbeiter sollen die Eltern nach einer schriftlichen Ankündigung besuchen und bei Anzeichen, dass das Wohl des Kindes gefährdet ist, das Jugendamt informieren.

Schon im vergangenen Dezember hatte der Senat das Gesetz auf den Weg gebracht, jedoch hatten vor allem Datenschützer protestiert. Von der Kontrollstelle räumlich, organisatorisch und personell getrennt soll es daher nun noch eine Vertrauensstelle geben. Diese soll die Daten verwalten und so den Zugriff durch Unbefugte verhindern.

277.000 Euro stellt der Senat für die Einrichtung der Charité-Stelle zur Verfügung. Eine Fehlinvestition, findet Elfi Jantzen, die familienpolitische Sprecherin der Grünen: "Diese zentrale Stelle dient der Kontrolle, bietet aber keine Hilfe. Die Mittel wären bei Hilfsangeboten und Ersthausbesuchen sinnvoller gewesen."

Auch der Kinderschutzbund kritisiert das geplante Kontrollsystem. "Hier wird der Anschein vermittelt, solch ein Kontrollsystem helfe gegen Vernachlässigung und Missbrauch", sagt Sabine Bresche, Sozialarbeiterin beim Kinderschutzbund Berlin. Mit dem Fokus auf lückenloser Kontrolle werde Eltern sofort ein latentes Misstrauen entgegengebracht, was zur Folge habe, dass Eltern sich Hilfsangeboten verschließen.

"Wir wollen Eltern nicht unter Generalverdacht stellen, sondern Vertrauen schaffen und Hilfen anbieten", verteidigt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Stefanie Winde, den Gesetzesentwurf. Aber gerade die persönlichen Ersthausbesuche würden viel eher Vertrauen schaffen als ein Kontrollsystem, entgegnet Sabine Bresche vom Kinderschutzbund.

Bevor Susanna Polke die Wohnung verlässt, guckt sie nochmals auf die schlafenden Zwillinge. Die Hinweise der Sozialarbeiterin auf Eltern- und Kindergeldanträge, die Vorsorgeuntersuchungen und die rechtzeitige Anmeldung für die Kita waren für die Mutter der Zwillinge nicht neu. Aber Nicole Grabonsky hat Interesse an der Mutter-Kind-Gruppe und dem Babyschwimmen, von dem sie ohne Polke nichts gewusst hätte.

Für die Sozialarbeiterin sind die Besuche nicht immer so erfreulich. Gerade in den vielen Hochhäusern, die sie betreut, sind Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder oft überfordert. "Da können wir auf solche Besuche keinesfalls verzichten."

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