Europawähler in Berlin: Eine aussterbende Spezies

So viele Wahlberechtigte wie noch nie blieben am Sonntag zu Hause, vor allem Hartz-IV-Empfänger, Migranten und junge Erwachsene.

Einsame Wählerin in einem Berliner Wahllokal am Sonntag Bild: Reuters

Am Sonntag gab es einen neuen Negativrekord: Nur 35,1 Prozent der Wahlberechtigten in Berlin gaben ihre Stimme ab. Das ist die niedrigste Beteiligung bei allen Wahlen seit 1945. Vor allem jüngere Wähler und die im Osten der Stadt wollten keinen Einfluss darauf nehmen, wer sie in den nächsten fünf Jahren in Brüssel und Straßburg vertritt. Der Senat hatte sich ein deutlich höheres Ziel bei der Wahlbeteiligung gesetzt: Mindestens 45 Prozent sollten es werden, wünschte sich die Europabeauftragte Monika Helbig. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hatte gesagt, die 45 Prozent wolle er durch Information erreichen - man wolle die Bürger aufklären, wie wichtig die Wahl ist.

Das hat offenbar nicht geklappt. Vor allem im Osten Berlins sank die Wahlbeteiligung auf dramatisch niedrige Werte. In Marzahn-Hellersdorf lag sie bei 25,2 Prozent - das sind 4,1 Prozentpunkte weniger als vor fünf Jahren. Aber auch in allen anderen Bezirken ging die Wahlbeteiligung zurück. Laut Landeswahlleiter blieben besonders viele Migranten und Bezieher von Arbeitslosengeld II zu Hause.

Gerade viele Bürger aus dem klassischen SPD-Milieu traten diesmal also in den Wahlstreik. Das verschlechterte nicht nur das SPD-Ergebnis - sondern auch die Wahlbeteiligung. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit sagte, die SPD müsse die Partei der sozialen Gerechtigkeit bleiben und im Herbst bei der Bundestagswahl "ihr Wählerpotenzial ausschöpfen". Die Berliner SPD-Kandidatin Dagmar Roth-Behrendt sagte, sie könne sich die niedrige Beteiligung und das schlechte SPD-Ergebnis nur so erklären, dass die Europawahl nicht ernst genommen werde (siehe Interview).

Je jünger ein Wahlberechtigter, desto eher ging er am Sonntag nicht wählen. Interessant ist dabei der Vergleich der Wahlbeteiligung in den einzelnen Altersgruppen zwischen dieser Europawahl und der vor fünf Jahren. Die 40- bis 45-Jährigen beteiligte sich am Sonntag zu 35,4 Prozent an der Wahl. Vor fünf Jahren waren diese Wahlberechtigten 35 bis 40 Jahre alt und stimmten genauso häufig ab (siehe Grafik). Bei den heute 25 bis 30-Jährigen sank dagegen die Beteiligung um 3,4 Prozentpunkte. Die Erstwähler von 2004 blieben diesmal sogar in Scharen weg: Ihre Teilnahmequote sank von 32,4 auf 23,8 Prozent.

Noch niedriger liegt die Wahlbeteiligung nur bei der Gruppe, die in diesem Jahr zum ersten Mal an die Urnen gedurft hätte - nur 23,6 Prozent nahmen diese Möglichkeit auch wahr. Das heißt: Die Personen, die tatsächlich wählen gehen, werden immer älter - und der Nachwuchs bleibt aus. Wenn das so weitergeht, kann die EU ihre Wähler bald auf die Rote Liste der bedrohten Arten setzen.

Laut Sabine von Oppeln von der Arbeitsstelle für Europäische Integration am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin gibt es mehrere Faktoren, die für die geringe Wahlbeteiligung verantwortlich sind: Die komplizierten Strukturen in der Europäischen Union, aber auch die Parteien selbst und die Medien. "In Europa geht es zwischen dem Parlament, den Ausschüssen, der Kommission und dem Rat hin und her, so dass oft nicht genug sichtbar wird, wo eine Entscheidung fällt", sagt sie. Es sei paradox, dass das Parlament immer mehr Macht habe, die Wahlbeteiligung aber zurückgehe.

Auch die Parteien sieht von Oppeln aber in der Mitverantwortung: "Die haben im Wahlkampf alles unternommen, um dem Bürger deutlich zu machen, dass sie sich vor allem für die nationale Politik interessieren." So waren die Wahlplakate etwa "weitgehend auf nationale Politikfragen bezogen". Die CDU plakatierte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die SPD zeigte Außenminister Frank-Walter Steinmeier - obwohl beide gar nicht zur Wahl standen. Nicht zuletzt: "Auch die Medien unternehmen nicht genug, um Entscheidungsprozesse deutlich zu machen und die Rolle des Parlaments herauszuarbeiten", kritisiert von Oppeln. Dabei sei das Parlament viel wichtiger als es derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung erscheint.

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