Gebetsurteil: "Grundrechte abwägen"

Das Urteil gehe in Ordnung, sagt der Soziologe Gert Pickel

taz: Herr Pickel, ist die Empörung über das Gebetsurteil angebracht?

Gert Pickel: Nein, natürlich nicht. Im Rahmen der Religionsfreiheit ist es jedem gestattet seine Religion zu leben, das ist eine politische Grundlage die wir in Deutschland haben. Es wird aber problematisiert und gewinnt an öffentlicher Aufmerksamkeit dadurch, dass Konfrontationslinien hinein gebracht werden. Das ist so wie beim EU-Beitritt der Türkei, hier werden aus konservativen Kreisen Ängste geschürt. Man beschwört ohne Grund den "Clash of Civilisations" zwischen christlichem Abendland und islamischem Osten und fürchtet sich vor dem Islam als Gewinner nach dem Mauerfall. Rechtlich gesehen, ist dieses Urteil völlig in Ordnung.

Fördert es aber nicht die Exklusion der Muslime?

Gert Pickel ist 46 Jahre alt und Professor für Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig

Die Separierung der pluralen Religionen führt natürlich selten zu Integration und das bei allen Religionsgemeinschaften. Wir haben nicht nur mehr Muslime in Deutschland auch die Zahl orthodoxer Christen steigt zum Beispiel. Beten ist etwas, das zur Identitätsbildung gehört und Identität stützt wiederum die Segregation und ist ein Abgrenzungsprozess. Das muss man klar sagen.

Sollte man im Sinne der Integration eine religionsfreie Schule einführen?

Das wäre dann eine Dominanzkultur. Man kann nicht -auch wenn es traditionell gewachsen ist- den Christen die Möglichkeit der Religionsausübung einräumen, den anderen aber verbieten. Das fördert auch nicht Integration.

Entweder lässt man es zu oder nicht

Im Prinzip bleibt gar nichts anderes übrig als es zuzulassen. Man hat es hier nicht nur mit einer Person zu tun, in Berlin sind muslimische Schüler in vielen Klassen in der Mehrheit. Es braucht deswegen eine Korrespondenz, wo Kinder aller Glaubensgemeinschaften sich austauschen, aber ihre Religionsfreiheit trotzdem leben können.

Im Ethikunterricht?

Ja, das ist eine mögliche, zusätzliche Brücke, die die verschiedenen Religionen verbindet. Man muss aber darauf drängen, dass die allgemeinen Rechte anerkannt werden und sich keine Gruppe zu stark zurückzieht.

Was sagt diese Diskussion über das Verhältnis zwischen Staat und Religion in Deutschland aus?

In Skandinavien gibt es eine enge Beziehung zwischen Staat und Kirche, in den USA gibt es eine strikte Trennung. In Deutschland ist das Verhältnis nicht klar definiert. Deswegen sind die Gerichte gefangen, weil sie Religion nicht verbieten und Integration nicht erzwingen können.

In den USA leben aber die Gemeinschaften neben- und nicht miteinander, oder?

Richtig. Aber der Blick dorthin ist trotzdem ganz hilfreich. Man hat die Trennung zwischen Staat und Religion aber auch die Trennung zwischen den verschiedenen Identitätsgruppen. Die reden auch nicht miteinander, sie tolerieren sich eher. Dann entstehen asiatische und lateinamerikanische Communities, die wachsen und gewinnen an Einfluss.

Werden die Muslime irgendwann einen solchen Einfluss in Deutschland erhalten?

Ja, sie machen schon jetzt fast 5 Prozent der Bevölkerung aus, in Berlin sind sie stärker vertreten. Man muss sich demnach fragen inwieweit sie in der Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche beteiligt werden. Das weckt Ängste, die mit der heimischen Identität zusammenhängt und manche müssen daraufhin das Christentum retten und sich abgrenzen.

Der Vater des Schülers hat vor Gericht gesagt, dass für ihn der Koran vor Schule geht. Wie sollte man mit dieser Aussage umgehen.

Das ist eine sehr schwierige Sache. Wir haben hier einen Vorrang für den Staat auch wenn er mit der Kirche zusammenarbeitet. Im Koran ist das ja nicht so vorgesehen, dort gibt es ein integratives Konzept. Da wird es problematisch, ob man die Differenzen toleriert oder sie "bearbeiten" muss. Man muss eine bestimmte Mischung finden, ohne Rechte einzuschränken und Parallelkulturen entstehen zu lassen.

Sie beschreiben da einen schmalen Grad

Integration kann nicht mit Gewalt geschehen, das ist rechtlich gar nicht möglich. Dann ziehen sich die Betroffenen nur noch mehr zurück. Wir brauchen hier vor allem Kommunikation: durch die Zeit wird die Konfrontation durch Austausch über Vermittlungsinstitutionen wie dem Ethikunterricht zum Beispiel überwunden.

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