Montagsintervie: "Ich wollte ganz schnell weg aus Deutschland"

Als Irène Alenfeld ihr Berliner Elternhaus auflöste, fand sie hunderte Briefe aus der Nazizeit. Darin schreibt ihr Vater von der ständigen Lebensgefahr als getaufter Jude. Die Geschichte der "privilegierten Mischehe" ihrer Eltern erzählt Alenfeld in dem Buch "Warum seid ihr nicht ausgewandert?"

Den Akzent auf ihrem Vornamen hat Irène Alenfeld von ihren Reisen mitgebracht. Als Dolmetscherin hat die heute 75-Jährige die Welt gesehen.

Das Buch: In "Warum seid ihr nicht ausgewandert?" lässt Alenfeld ihre Familie sprechen. Hunderte Briefe schickten sich die weit verzweigten Mitglieder der Berliner Bankiersfamilie während Weimarer-, Nazi- und Nachkriegszeit. Als Alenfelds Mutter Sabine Mitte der 90er-Jahre starb, entdeckte die Tochter im Zehlendorfer Elternhaus die Korrespondenz. Mehr als zehn Jahre hat sie gebraucht, um die dicht beschriebenen Seiten zu entziffern und zu ordnen. Darin taucht natürlich auch die Autorin auf: als kleine "Reni".

Die Überraschung: Die 1933 Geborene hat durch die Briefe entdeckt, wie sehr die Eltern unter dem Stigma der "privilegierten Mischehe" litten - und trotzdem anderen halfen.

Erschienen ist " ,Warum seid ihr nicht ausgewandert?' Überleben in Berlin 1933 bis 1945" im Verlag für Berlin-Brandenburg, 2008. 480 Seiten, gebundene Ausgabe, 80 Schwarz-weiß-Abbildungen, 24,95 Euro.

Am Montag, den 4. Februar um 11 Uhr liest Alenfeld aus ihrem Buch: Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 28-30, 10117 Berlin.

taz: Frau Alenfeld, Ihr Vater schrieb im Ersten Weltkrieg von der Front: "Ich denke christlich, doch ich fühle jüdisch." Und Sie?

Irène Alenfeld: Ich denke christlich. Ich bin zwar diejenige, die in unserer Familie das Judentum wiederentdeckt hat. Aber mir war es dennoch nicht möglich, zu konvertieren. Dazu ist mein Glaube nicht fest genug. Mein Ausweg wurde, die jüdischen Wurzeln im Christentum zu betonen.

Und woran glaubte Ihr von den Nazis bedrohter Vater? Immerhin ließ Ihr jüdischer Großvater ihn als Kind christlich taufen.

Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Im Sommer 1943 gab es in Berlin wieder eine Verhaftungswelle. Sogenannte privilegierte Mischehen - das waren Mischehen mit Kindern - zwischen "Juden" und "Ariern" waren betroffen. An den Deportationen waren hiesige Spediteure beteiligt. Deren Warnungen erreichten meinen Vater über einen befreundeten "arischen" Bankier: "Da ist wieder was im Gange." Als die Gefahr abgewendet war, schilderte mein Vater in einem Brief sehr bewegt, wie er am nächsten Sonntag in die Paulus-Kirche in Zehlendorf ging, Gott dankte und am Abendmahl teilnahm.

Die Verfolgung brachte Ihren Vater nicht dem Judentum näher, wie beispielsweise Albert Einstein oder Sigmund Freud?

Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs lebte er bewusst als Christ. Im Denken und Fühlen. Ich glaube, im Laufe seines Lebens überwand er die Spaltung in sich.

Trotzdem gerieten Ihre Eltern - die Protestantin Sabine und der getaufte Jude Erich - seit 1933 immer stärker unter Druck. Ahnten sie, wie lebensbedrohlich ihre Lage wurde?

Sie haben es nicht genug begriffen, um die Konsequenz zu ziehen und auszuwandern.

Warum?

Vielleicht zeigten sie da eine typisch menschliche Reaktion. Wenn sie eine Gefahr überstanden hatten, dachten sie: "Jetzt wird alles gut, denn schlimmer kann es nicht mehr kommen. Immerhin haben wir den Zusammenbruch des Kaiserreichs und fast aller bisherigen Wertvorstellungen überlebt. Den Hitler werden wir auch überstehen."

Ahnten Sie als Kind, in welcher Gefahr Sie schwebten?

Ich wusste um die Gefährdung meines Vaters, doch nicht um meine eigene. Ich lernte, zwischen großen und kleinen Lügen zu unterscheiden. Die "große" musste sein, um meinen Vater zu schützen. Und instinktiv tat ich meinen Teil, um nicht aufzufallen. Wenn ich für öffentliche Sammlungen in der Nachbarschaft Altmetall und Lumpen sammeln ging, grüßte ich mit "Heil Hitler". Denselben Nachbarn sagte ich ansonsten "Guten Tag". Angst hatte ich nur vor Bomben, gegen die half auch nicht die Zivilcourage meiner Eltern.

Überlebte der Glaube ans Überleben auch die Zeit, als Ihrem Vater die Deportation drohte?

Meine Eltern waren Bürger einer anderen Zeit. Sie dachten: Gesetze sind dazu da, um befolgt zu werden. Und da hatten sie Glück. Gerade in Berlin gab es noch viele preußische Beamte, die Gesetze nicht willkürlich auslegten: Solange mein Vater seine Unterlagen vorzeigte, die seine "privilegierte Mischehe" nachwiesen, war er relativ sicher. Ausgerechnet in der seit Mitte 1943 angeblich "judenfreien" Reichshauptstadt überlebten 5.000 bis 8.000 Deutsche jüdischer Abstammung den Krieg.

Hatte Ihr Vater schlicht Glück?

Glück, Vertrauen und einen guten Instinkt. Mitten im Krieg konnte mein Vater, ein ehemaliger Bankangestellter, als Testamentsvollstrecker einer jüdischen Erbengemeinschaft arbeiten.

Wie bitte?

Es ist bizarr, ich weiß. Denn das jüdische Vermögen, um das es ging, war ja längst konfisziert. Mein Vater war offiziell dazu da, um diese Geschäfte abzuwickeln. Alte Schulfreunde in höchsten Stellen halfen ihm, dass er diese Stellung behalten durfte. So wurde er von Zwangsarbeit verschont. Obendrein hörte er sogenannte Feindsender und sprach mit Bekannten in den Ämtern darüber. Das alles war höchst riskant. Aber anscheinend hatte er beim Umgang mit Menschen den richtigen Instinkt: Er wurde nie verraten.

Wann war die Gefahr für Ihre Eltern am größten?

Ab Herbst 1944 bis in den Frühling 1945. Tausende "jüdisch Versippter" wurden als Zwangsarbeiter in Arbeitslager und Baubataillone geschickt. Noch im Februar 1945 wurden 2.600 jüdische Ehepartner ins KZ Theresienstadt deportiert. Auch meinem Vater drohte die Verschleppung. Aber das Chaos war in Berlin bereits groß. Gleichzeitig stießen die Russen auf die Stadt vor. Mein Vater schrieb der Schwester meiner Mutter: "Wir müssen für jeden ruhigen Tag dankbar sein. Jeder Tag kann die befürchtete Wende bringen, sei es von den Russen her, oder von der Gestapo."

Warum halfen Ihre Eltern, deren Leben selbst bedroht war, damals anderen?

Warum? Diese Frage hätten sie gar nicht verstanden. Das tat man einfach.

Die meisten hatten weniger Mut. Steckte dahinter der Gemeinsinn des stolzen deutschen Bürgers?

Das kann sein. Vielleicht zeigte sich darin auch das jüdische Erbe meines Vaters: "Zedaka", die Sorge um die Schwachen. Meine Mutter schmuggelte für Freunde und Bekannte Schmuck nach Dänemark, Großbritannien oder in die Niederlande. Um Martha, die Witwe des Malers Max Liebermann, kümmerte sich mein Vater ein halbes Jahr lang bis zu ihrem Freitod. Die 85 Jahre alte, schwerkranke Dame nahm eine Überdosis Schlaftabletten, als sie im März 1943 zur Deportation nach Theresienstadt abgeholt werden sollte. Sie starb erst fünf Tage später im Jüdischen Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Mein Vater sorgte auch für ihr Begräbnis auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee.

Wie entschieden Ihre Eltern, wem sie halfen?

Gar nicht. Bei uns zu Hause verkehrte auch regelmäßig ein jüdischer Bekannter, der untergetaucht war: ein sogenanntes U-Boot. Das war kein Freund der Familie, sondern schlicht ein Kollege aus Bankzeiten meines Vaters.

In Ihrem Buch schildern Sie auch Auseinandersetzungen Ihrer Eltern. Hätte sich Ihre Mutter scheiden lassen, wäre Ihr Vater den Schutz der "privilegierten Mischehe" los gewesen.

Mein Vater war elf Jahre älter als meine Mutter. Er war ein Patriarch und brauchte zur Erholung Ruhe, sie liebte zum Ausgleich das Musizieren. Da habe ich oft erlebt, wie meine Eltern stritten. Aber meine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, ihren Mann zu verlassen im Augenblick der Not. Erst mehr als vier Jahrzehnte später, am ersten Todestag meines Vaters, verriet mir meine Mutter: "Vielleicht hätte ich diese Ehe ohne den Druck von außen nicht durchgehalten."

Ihre Eltern überlebten den Krieg nicht nur, sie engagierten sich auch beim Wiederaufbau. Ihr Vater gründete die CDU in Zehlendorf mit, wurde 1946 Mitglied der Entnazifizierungskommission für Zehlendorf und war viele Jahre Bezirksverordneter. Ihre Mutter wurde Kirchenratsmitglied der Paulus-Gemeinde und Schöffin am Jugendgericht. Warum wanderten sie nicht aus, als sie es endlich konnten?

Diese Frage habe ich als Jugendliche nach dem Krieg oft gedacht und manchmal gestellt. Mein Vater traf sich ja sogar wieder jedes Jahr mit seinen Regimentskameraden des Ersten Weltkriegs, um ihre "Erlebnisse vor dem Feind" auszutauschen. Kurz vor seinem Tod 1977 gab er mir eine Antwort auf mein "Warum?": "Alles habe ich ertragen, um in meiner Heimat bleiben zu können. Und zur Heimat gehören auch die Kleinmütigen. Es ist an mir, verzeihen zu können, solange die menschlichen Schwächen nicht in Verrat und Mord ausgeartet waren."

Wie fanden Sie das?

Entsetzlich. Während des Krieges hatte ich immer wieder gehört: Wenn die Nazis erst mal besiegt sind, wird alles gut. Und nichts wurde gut. Ich wollte so schnell wie möglich weg aus Deutschland. Deshalb ging ich 1953 als Au-pair nach Paris, studierte dort und in London und ging fünf Jahre später als Konferenzdolmetscherin nach Washington. Ich wollte die Welt kennenlernen. Daraus geworden ist ein Leben zwischen Berlin, Düsseldorf und Südfrankreich. Erst später fand ich heraus, dass das kleine südfranzösische Städtchen Sanary-sur-Mer, in dem ich als Au-pair den Sommer verbracht hatte, die "heimliche Hauptstadt" der deutschen Exilliteratur in den 30er-Jahren gewesen war. Daraus wuchs mein Interesse für Exilforschung.

Im Nachlass Ihrer Mutter fanden Sie Mitte der 90er-Jahre hunderte Briefe Ihrer Familie. Wenn Sie heute mit dem Wissen aus diesen Briefen zurückblicken: Hätten Sie während und nach der Nazizeit ähnlich wie Ihre Eltern gehandelt?

Das wage ich nicht, zu beurteilen. Einerseits finde ich: Natürlich hätten sie damals auswandern müssen. Andererseits: Es ist großartig, dass unsere Familie hier überlebt hat. Das ist ihr Geschenk an mich. Doch ich lebe zwischen Frankreich und Deutschland.

Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie die Briefe Ihrer Eltern lasen?

Die Gefahr, in der wir waren. Ich hatte keine Ahnung, wie gefährdet wir gelebt hatten.

Was würden Sie Ihre Eltern heute noch gern fragen?

Fragen habe ich eigentlich nicht mehr. Aus den Briefen habe ich sehr viel erfahren. Aber mir tut eines leid: Ich habe zu ihren Lebzeiten nicht erkannt, was ich Ihnen verdanke. Das ist eine gewisse Eigenständigkeit im Denken und Handeln. Und das Überwinden von Angst: Zivilcourage.

Mitte der 90er-Jahre wurden Sie Patenmutter einer afrikanischen Familie in Berlin. Wollten Sie wie Ihre Eltern anderen helfen?

Auf jeden Fall war es eine bewusste Entscheidung. Über die Ausländerbeauftragte in Zehlendorf lernte ich eine Äthiopierin kennen, die als Sklavin nach Berlin verschleppt worden war. Heute hat sie den richtigen Mann gefunden, er ist aus Uganda. Und eine gemeinsame Tochter, deren Patentante ich bin. Die drei sind für mich so etwas wie eine Familie geworden. Sie sind nicht aus der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen. Was das heißt, weiß ich aus meiner eigenen Kindheit.

Geheiratet haben Sie nie. Warum?

In meinem Beruf als Konferenzdolmetscherin war ich in mehreren Welten zu Hause. Nach dem Tod meines Vaters habe ich ein Jahr lang intensiv getrauert. Von dem Ausmaß war ich selbst überrascht. Immerhin hatte ich mich oft mit ihm gestritten. Freunde von mir - Psychoanalytiker - haben mir gesagt: Die Tatsache, dass du nie geheiratet hast, hängt mit deiner sehr starken Bindung an deinen Vater zusammen. Das mag sein.

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