Armut, Arbeitslosigkeit, Jugendgewalt: Kiez auf der Kippe

Spandau galt lange als provinzieller Bezirk ohne Probleme. Nun wird deutlich: Besonders in den Großsiedlungen stimmt die soziale Mischung nicht mehr.

Ihr Name sei Anna, sagt sie, 18 Jahre sei sie alt, und aus ihrem Mund kommt ein glasklares Deutschrussisch, mindestens acht Silben in der Sekunde. Schlägereien unter Gleichaltrigen hat sie schon viele mitbekommen. "Wenn du hier draußen unterwegs bist, darfst du nicht schwach sein", sagt sie. Und was passiert mit denen, die doch schwach sind? Anna wird plötzlich wortkarg. "Die haben es schwer", sagt sie, neigt den Kopf zur Seite, und ihre langen, zum Zopf gebundenen blonden Haare pendeln hinterher.

Anna wohnt mit ihrer Familie in Spandau. Der Bezirk ist in der aktuellen Debatte über Jugendkriminalität nicht aufgetaucht - in der Öffentlichkeit werden fast ausschließlich Viertel thematisiert, die seit Jahren einen schlechten Ruf haben und teilweise als "Problembezirke" bezeichnet werden, weil Gewaltakte dort überdurchschnittlich häufig sind. Spandau hingegen lebt immer noch von dem Ruf, eigentlich kein Teil Berlins zu sein und deswegen auch dessen Probleme nicht zu haben. Spandau - die stolze Vorstadt, die zwar 1920 eingemeindet wurde, sich aber bis heute für etwas Besseres hält. Dabei stehen mehrere Quartiere auf der Kippe.

An einigen Stellen sei "eine hohe Konzentration sozialer Probleme festzustellen", heißt es im aktuellen "Monitoring Soziale Stadtentwicklung", das Hartmut Häußermann, Professor für Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt-Universität, im Auftrag des Senats erstellt hat. Von den 338 Berliner Quartieren, die Häußermann untersucht hat, liegt die Gegend, in der Anna wohnt, auf Platz 283 - mit absteigender Tendenz.

Von dieser Studie hat Annas Familie, zu der noch die Eltern und der kleine Bruder gehören und die weder ihren Nachnamen noch ein Foto von sich in der Zeitung sehen will, noch nichts gehört. Aber das, was der Wissenschaftler Häußermann beschreibt, sieht die Familie auch jeden Tag vor der Tür. Zum Beispiel, dass viele Erwachsene keine Arbeit haben, dass es Einbrüche und Vandalismus gibt. Und sie lesen die Schlagzeilen: Vergangene Woche starb in Spandau ein sieben Monate alter Säugling nach Misshandlungen; seine Eltern - beide 22 Jahre alt - wurden festgenommen.

Anna sitzt bei ihren Eltern zu Hause auf der geblümten Couch zwischen geblümten Tapeten, und es macht den Eindruck, dass auch sie selbst schon resigniert hat. Wie sieht es bei ihr mit einem Ausbildungsplatz aus, nachdem sie an der B.-Traven-Oberschule ihren Hauptschulabschluss gemacht hat? "Nichts gefunden", sagt Anna. "Nicht gesucht", sagt ihre Mutter.

Die Siegener Straße, in der die 18-Jährige mit ihrer Familie wohnt, lässt sich grob in zwei Teile aufteilen: die rechte und die linke Straßenseite. Rechts stehen Einfamilienhäuser vom Anfang des vorigen Jahrhunderts mit Vorgärten und Apfelbäumen. Links beginnt die Siedlung mit Wohnblocks aus den 60er-Jahren, das Falkenhagener Feld. 25.000 Menschen leben hier. Anna wohnt links.

Bereits im vergangenen April hat Spandaus Sozial- und Gesundheitsstadtrat Martin Matz Alarm geschlagen. Öffentlich erklärte er, "dass Spandau erhebliche soziale Probleme hat und im Vergleich zu anderen Berliner Bezirken bei vielen Fragen sehr schlecht abschneidet". Der Bezirk habe zum Beispiel überdurchschnittlich viele Verbraucherinsolvenzen, Krankenhausaufenthalte, Langzeitarbeitslose und Selbstmorde.

Für seine Aussagen erhielt Matz zahlreiche und harsche Kritik: Er rede den Bezirk schlecht und kratze am guten Image. Die Debatte hat die Familie von Anna nur am Rande mitbekommen. Ihre Mutter fand es gut, dass einer so offen sagt, was Sache ist. "Sonst passiert hier nichts", sagt sie, "aber die Menschen brauchen Unterstützung."

Wenn in der Gegend rund um das Falkenhagener Feld ein Moped gestohlen, in einen Kindergarten eingebrochen oder ein BVG-Bus mit Steinen beworfen wird, dann haben die Täter häufig einen Migrationshintergrund. Viele sind Russlanddeutsche wie Anna. Die Folge sind rassistische Sprüche. Unter alteingesessenen Spandauern geht seit geraumer Zeit die Frage um: Warum gehen sie nicht dahin zurück, wo sie hergekommen sind?

Annas Vorfahren waren im 18. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert. Zarin Katharina die Große wollte unbewohntes Land besiedeln, sie warb um Auswanderer und gestattete ihnen eine lokale Selbstverwaltung mit Deutsch als Sprache. Durch die Weltkriege schlug die Stimmung um, 1941 wurden die Deutschen nach Sibirien in Arbeitslager deportiert, hunderttausende Auswanderer starben, ihre Sprache wurde verboten.

Hat eine Staat eine Verantwortung für seine Bürger, die im Ausland wegen ihrer Zugehörigkeit zu diesem Staat verfolgt werden? Teilweise, so die politische Linie in der Bundesrepublik. Zwar dürfen die einstigen Auswanderer seit Ende der 60er-Jahre nach Deutschland zurück. Aber hier angekommen, werden sie weitgehend sich selbst überlassen. Ihre Schul- und Universitätsabschlüsse werden selten anerkannt, Sprachkurse sind Mangelware, Arbeitsplätze ohnehin.

So kommt es, dass viele Aussiedler nicht zu den Gewinnern dieser Gesellschaft gehören; zusammen mit Nichtaussiedlern, denen es genauso geht, ziehen sie in Quartiere, wo die Miete günstig ist - wie eben das Falkenhagener Feld. Laut der Studie von Professor Häußermann hat sich die Bevölkerung hier in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich schnell ausgetauscht.

So sind es diese Großsiedlungen am Rande Berlins, die Politikern und Stadtentwicklern Kopfzerbrechen bereiten. "Man muss nicht befürchten, dass das Falkenhagener Feld zu einem sozialen Brennpunkt werden könnte - das ist es schon längst", sagt Joachim Koza, der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende in der Spandauer Bezirksverordnetenversammlung. Koza ist in diesem Wohngebiet aufgewachsen.

"Das Falkenhagener Feld macht mir große Sorgen", sagt auch Raed Saleh, SPD-Parlamentarier im Abgeordnetenhaus, über seinen Wahlkreis. "Viele Anwohner haben das Vertrauen in ihren Kiez verloren und kehren ihm den Rücken." Gerade junge Menschen hätten Angst vor Arbeitslosigkeit und Sorgen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten.

Spandau hat deshalb in drei Gebieten Quartiersmanagements eingerichtet. Sie sollen verhindern, dass die Zusammensetzung der Bevölkerung noch ungünstiger wird, sollen jungen Menschen Möglichkeiten jenseits der Gewalt aufzeigen. Zwei der Gebiete decken das Falkenhagener Feld ab, das dritte die Großsiedlung an der Heerstraße.

Veronika Zimmer ist als Leiterin des Quartiersbüros in der Pionierstraße für den östlichen Teil des Falkenhagener Felds zuständig und für die knapp 11.000 Menschen, die dort wohnen. Von den jungen Anwohnern unter 18 Jahren lebt ein Viertel von staatlicher Unterstützung, bei den Vorschulkindern ist es sogar ein Drittel. Zu Zimmers Gebiet gehört auch die Zeppelinstraße mit der höchsten Arbeitslosenquote in ganz Spandau.

Zimmers Aufgabe ist groß, sie selbst ist optimistisch. Man könnte sie auch die Frau der kleinen Schritte nennen: Sie zerteilt sich die Aufgabe einfach in viele Teile und geht sie dann der Reihe nach an. Da ist zum Beispiel das Zentrum des Quartiers. Hier, wo die Westerwaldstraße einen Knick macht, gibt es einen Supermarkt, ein paar Einzelhandelsgeschäfte, die Kirche, die Schule, das Klubhaus und die Trinker.

Die Trinker sitzen auf diesem kleinen Platz - es sind einige Handvoll Männer -, viele Anwohner fühlen sich von ihnen belästigt. Veronika Zimmer macht sich nun daran, eine Lösung zu finden. Sie will einen Ort finden, an dem die Trinker weiterhin sitzen können, ohne dass sich jemand belästigt fühlt.

"Es geht uns nicht darum, jemanden zu vertreiben", sagt Zimmer, und sie meint das auch so. Ziel ist es, den neuen Ort zusammen mit den Trinkern zu finden. So weit ist es allerdings noch nicht. Aber da ist Hoffnung. Denn immerhin haben die Trinker jetzt schon mehrfach ihre leeren Flaschen abends selbst weggeräumt und in den Müll geworfen. "Nur ein ganz kleiner Schritt, aber ein sooo wichtiger", sagt Zimmer und strahlt.

Die Anwohner dürfen auch in anderen Fragen mitreden. Ein Beirat entscheidet, wie die Zuschüsse aus dem Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" im Kiez verteilt werden. Das Geld fließt dann etwa in Kultur, Freizeitangebote, Bildung oder soziale Infrastruktur. "Man muss hier ganz an der Basis anfangen und erst mal den Anstoß geben, dass die Anwohner ins Gespräch miteinander kommen", sagt Zimmer. Einige hätten sich zum Beispiel einen kleinen Garten gewünscht, in dem sie Gemüse anbauen können - die Beete sind direkt neben der Kirche entstanden, der Ort ist zum Treffpunkt für die Anwohner geworden.

Zusätzlich zum Quartiersmanagement werden auch über das Projekt "Stadtumbau West" staatliche Gelder in dem Gebiet investiert. So soll das Klubhaus, ein verfallenes Jugendfreizeitzentrum, bald zum Stadtteilzentrum umgebaut werden.

Und Zimmer hat noch viele weitere Ideen. Der Spektesee am Rande des Falkenhagener Feldes etwa könnte nach einem Umbau zum Badesee im Sommer zum Anziehungspunkt für ganz Spandau werden. Und wenn dann auch noch an der alten Bahnlinie neben dem See eine Haltestelle eingerichtet wird

Wie stehen die Chancen, dass das Falkenhagener Feld die Probleme in den Griff bekommt? Dass die Menschen eine Chance haben und nicht in die Kriminalität abrutschen? Zimmer ist zuversichtlich. Schließlich sei die Infrastruktur vorhanden. Es gibt eine Bücherei, es gibt Orte zur Begegnung zwischen den Menschen, es gibt Spielplätze und Kulturangebote - sie müssten nur besser genutzt werden.

"Frau Zimmer macht ihre Arbeit wirklich gut", sagt der CDU-Politiker Koza. Durch ihre Arbeit werde den Bürgern bewusst, dass hier versucht wird, ihnen zu helfen. Dadurch würden die Anwohner wieder Vertrauen zu ihrem Kiez bekommen und sich selbst dafür engagieren. Koza: "Seit das Quartiersmanagement hier ist, hat sich spürbar etwas verändert."

Auch der SPD-Abgeordnete Saleh findet, man müsse "das Quartiersmanagement weiter stärken und ihm mehr Spielraum geben". Dadurch, dass den Bewohner gezeigt werde, dass das Gebiet nicht aufgegeben wird, werde den Problemen entgegengewirkt - und etwa durch die vom Quartiersmanagement herausgegebene Kiezzeitung ein positives Zugehörigkeitsgefühl geschaffen.

Zimmers Aufgabe ist nicht einfach, es gibt dafür keine Patentrezepte und keine einfachen Antworten. Und es ist schwer, alle Bewohner zu erreichen. Anna und ihre Familie zum Beispiel haben von Frau Zimmer und ihrem Quartiersmanagement noch nie gehört. Und was den Umbau des Klubhauses angeht, sind sie skeptisch: Da sei schon häufig etwas versprochen worden, aber nie etwas passiert.

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