Beschwerdechor aus dem Wrangelkiez: Mal ordentlich die Meinung singen

Als Kind hat man es nicht leicht: Damit sie ihren Protest mal stimmgewaltig äußern können, hat Doreen Kutzke mit zehn Kindern einen Beschwerdechor aufgebaut.

Ob sie auch Beschwerden haben? Die Wildecker Herzbuben. Bild: AP

Doreen Kutzke hat die Zeile mit dem stinkenden Schulklo vergessen. Die ist ihr nicht mehr eingefallen, als sie den Text abgetippt hat. Jetzt müssen es sich alle selbst auf ihren Zettel schreiben: "Es ist so eklig bei uns auf dem Schulklo." Dass es riecht wie im Zoo, das steht dann wieder auf den Blättern, die sie an die Kinder verteilt hat. Nur die eine Zeile fehlt. Es dauert ein bisschen, bis jeder sie ergänzt hat. Sie beugen sich über den Tisch, auf dem sehr viele bunte Stifte liegen. Zehn Schüler, 8 bis 14 Jahre alt. Heißt es jetzt "im Schulklo", oder "aufm" Schulklo? Ach, menno, "auf dem" natürlich! Und dann sind irgendwann alle fertig und es kann losgehen.

Sie fangen mit der ersten Strophe an, die von einem spuckenden Lehrer handelt und damit endet, dass er das künftig bitte mal besser sein lassen soll. Alle zusammen. Im Kanon. Laut und klar. Den Song haben sie sich selbst ausgedacht, eine Gemeinschaftsproduktion. Sie werden das auch am Freitag singen, wenn sie im Nachbarschaftshaus in der Cuvrystraße ihre kleine Premiere haben - vor Eltern und Leuten, die sonst noch so kommen. Sie sind der Beschwerdechor aus dem Wrangelkiez.

Die Beschwerdechor-Leiterin hat an diesem Vormittag wieder einiges zu tun. Man muss permanent aufpassen, sagt Doreen Kutzke, ständig die Konzentration halten. "Das fliegt sonst sofort auseinander." Mit dem Beschweren allein sind die Kinder irgendwie nicht richtig ausgelastet. Sie malen nebenher. Bilder von Drogendealern aus dem Görlitzer Park, die aussehen wie finstere, dropsrunde Smiley-Gesichter und Spritzen und Hundehaufen vor den winzigen Füßen liegen haben. Sie rennen raus, schaukeln, spielen im Sand. Es ist ziemlich aufwändig, sie dann alle wieder an den Tisch zu treiben und zum Singen zu bringen, aber darum geht es schließlich, also gelingt es auch immer wieder. Es sei ja, sagt Kutzke, "keine autoritäre Kiste, wo ich sage: alle still sitzen". Da würden sie sich am Ende nur über die Beschwerdechor-Leiterin beschweren.

Sehr nah am Leben

Die Sache mit diesen speziellen Klage-Gesängen war nicht direkt Doreen Kutzkes Idee. Sie hat in Kreuzberg einmal eine Ausstellung besucht, auf der die Installation von einem finnisch-deutschen Künstlerpaar zu sehen war. Da sangen erwachsene Menschen von Dingen, die sie nerven. Sehr nah am Leben sei das dran gewesen, erinnert sich Kutzke. Es ging etwa um Computer, die nie so funktionieren, wie ihre Besitzer das gern hätten. Als sie das sah, dachte sie sofort, dass man so ein Projekt einmal mit Kindern machen müsste.

Kutzke ist 33 Jahre alt, sie hat selbst eine kleine Tochter, Leika. Sie hat also beim Kiezmanagement ein Konzept eingereicht und sich um Gelder aus dem Aktionsfonds beworben. Gerade in den Ferien, wo manche Familien gar nicht wegfahren, könnte das eine sinnvolle Sache sein, fand sie. Die Kinder hängen dann nicht nur ab, sondern beschäftigen sich ein bisschen. Drei Stunden, jeden Vormittag, eine Woche lang. Die meiste Zeit sind sie in einem kleinen Raum im Nachbarschaftshaus, in dem sonst Deutsch-Kurse stattfinden. An den Wänden hängen Plakate, die vom Wesen des Verbs erzählen.

"Zählt doch mal ein paar Punkte auf, die euch stören", hat Kutzke am Anfang gesagt, "ihr braucht nicht denken, dass ihr da jetzt ganz dolle Dinger liefern müsst." Katherina, Fides und Sashan sind alle 11 und sitzen zusammen ganz hinten an der Tischecke. Sie waren mal in einer Klasse, bis Fides kürzlich die Abzweigung zum Gymnasium genommen hat. Es gibt so ein paar Sachen, die hier im Grunde alle irgendwie nerven. Klassiker. Die Mutter, weil sie meckert, wenn das Zimmer nicht aufgeräumt ist. Der Mathelehrer, weil er schreit und dabei rot wird und Shahan dann immer denkt, er sollte jetzt mal besser wieder einatmen. Zumindest denkt sie das, wenn er gerade nicht sie selbst anschreit. Sie muss manchmal fast lachen darüber. Es gibt aber auch eine Sache, über die sich Katherina, Fides und Shahan zurzeit besonders energisch beschweren: den Görlitzer Park.

Um den müssen sie jetzt nämlich immer in einem ziemlich nervigen Bogen herumlaufen, wenn sie ins Spreewald-Bad wollen, weil ihre Eltern gesagt haben, sie dürfen da nicht mehr allein rein, wegen der Dealer. Die Dealer sind überhaupt so ein Thema, da kann sich Katherina eine ganze Weile darüber aufregen. Sie ist sogar mal von einem verfolgt worden, sagt sie. Und einen anderen musste der Bruder ihrer Freundin mal verprügeln, als er sie beim Spielen auf dem Hof genervt hat. Über Shahan wohnen offenbar auch Dealer. Das sagt wenigstens ihre Mutter immer. Deshalb wird es abends so laut, hat die ihr einmal erklärt. Die würden dann immer die Möbel rücken, um die Drogen zu verstecken. Laute Musik hören sie auch, weshalb Shahans Mutter gelegentlich die Polizei ruft.

Gegen Dealer und Krach

An der Stelle muss Doreen Kutzke dann doch kurz klarstellen, dass sie auch manchmal laut Musik hört, was nicht bedeute, dass sie deale. Es gebe durchaus Leute, die Lärm machen und keine Dealer seien. Kutzke jodelt beispielsweise auch. Sie singt nicht nur in zwei Bands und wird im Sommer wieder bei einem Musical mitmachen, sie hat auch eine Jodelschule aufgemacht, weil sie das schon immer toll fand, seit sie als Kind im Harz damit angefangen hat. Jodeln wäre für die zehn Beschwerde-Kinder aber zu kompliziert, außerdem gibt es dabei keinen Text.

Mit der Musik ist das ohnehin nicht so einfach. Das erste Lied, das sie gemacht haben, singen sie zur Melodie von "Bruder Jakob", das geht ganz gut, auch im Kanon, und entfaltet wirklich eine ziemliche Kraft, wenn sie sich zeitlich versetzt "Lass es sein" zurufen und den spuckenden Lehrer meinen. Beim zweiten Lied ist die Melodie nicht ganz so bekannt, da wird es schon wesentlich schwieriger. Man muss auf simple Sachen setzen, sagt Kutzke, sonst wird es zur Quälerei. Sonst klingt alles ein bisschen schief, da kann sie noch so energisch mit der Rassel den Takt schlagen.

Sie wollen an diesem Vormittag, es ist der dritte des Kurses, zur Abwechslung etwas konstruktiver werden. Es geht nicht mehr nur um Beschwerden, sondern auch um Wünsche. Doreen Kutzke singt die Melodie vor, auf die diese Wünsche passen sollen. Katherina, Fides und Shahan möchten leere Mülleimer im Görlitzer Park und dass es auf der Welt keine Dealer mehr gibt. Katherina wünscht sich außerdem billigere Spiele für ihren tragbare Nintendo DS. Das halten die anderen beiden auch für eine ziemlich gute Idee. Jede von ihnen hat mindestens zwei Konsolen. Berenice, die 13 Jahre alt ist und einige Stühle weiter sitzt, hat auf ihrer Liste "gerechte Verteilung von Geld" stehen. Ihre jüngere Schwester ist für Frieden in Afrika und hält es außerdem für doof, dass in New York die beiden Häuser zusammengebrochen sind.

Berenice hat auch eine der zentralen Stellen zu einem Beschwerdesong beigetragen. Sie handelt davon, dass Erwachsene Kinder nie wirklich respektieren. Wenn ihre Mutter, die aus Brasilien stammt, viele Freunde einlädt und für die kocht, mischt sich Berenice manchmal in die Gespräche ein. Nur: "Wenn man etwas dazu sagt, dann passiert da nicht viel." Nach dem 11. September hatte ihre Mutter beispielsweise gedacht, es gehe um irgendeinen Krieg zwischen Argentiniern und Amerikanern. Absurde Sache. Sie liest keine Zeitung, schaut kein Fernsehen und hört auch nicht Radio. Berenice hat ihr erklärt, was los war, aber irgendeiner der Freunde wusste es noch ein wenig besser. Sie hatte nicht den Eindruck, dass man sie da besonders ernst nimmt. Es tut ganz gut, dass sie das jetzt mal in dieser einen Zeile losgeworden ist. "Das zu singen", sagt sie, "ist besser, als wenn man sich mit den Eltern darüber streitet."

Doreen Kutzke sieht das ähnlich. "Du packst das halt wirklich in eine andere Form", sagt sie. "Du kriegst eine andere Sichtweise drauf." Manche der Schüler meinen, dass es möglicherweise ein bisschen zu nett klingt. So freundlich dahingesungen. "Vielleicht", überlegt Shahan, "soll es aber so schön sein, dass sie damit aufhören." Die Lehrer etwa, mit dem Spucken und Schreien. Na ja, und die Dealer.

Die könnten womöglich etwas hören, wenn der Chor im Garten des Nachbarschaftshauses proben würde. Hinter dem hohen Zaun laufen ein paar gebeugte Gestalten mit Hunden vorbei, während die drei Mädchen in einer Pause in der großen Holzschaukel hin und her schwingen. Aber draußen, das wollen sie dann doch lieber nicht. Ist ihnen irgendwie zu peinlich.

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