Schachboxen: Matt und K.O.

Szeniges Publikum und Prosecco, Kämpfer mit harter Faust und Denkerstirn - das ist der Weltmeisterschaftskampf im Schachboxen. Doch der bisherige Star im Halbschwergewicht, der Berliner Frank Stoldt, verliert seinen Titel

"Irgendwann muss mal Schluss sein mit dem primitiven Gekloppe", sagt ein schweißtriefender Gianluca Sirci, Kampfname "Il Dottore". Gerade hat er seinen Kampf beim Berliner Start der bundesweiten Schachbox-Tour 2008/2009 durch Abbruch gewonnen. Seinem Gegner Andrew "The Rock" Costello waren einige Freefighter-typische Unfairheiten zu viel unterlaufen.

Aber um solche Boxdetails geht es an diesem Abend in den mondänen Kreuzberger Premium-Hallen eigentlich gar nicht. Worum es ihm geht, erklärt der promovierte Biochemiker "Il Dottore" so: Er habe lang genug sein Leben rund um die Profikämpfe vergeudet, an Frauen, Drogen und Alkohol. Erst das Schachspiel habe ihn fokussiert. Wie aufs Stichwort drängen sich nun nicht mehr ganz taufrische Partygirls um den 120 Kilo schweren Brocken, lassen sich von ihm nass drücken und kreischend in die Höhe heben. Schachboxen, so sieht es aus, übt seine Faszination vor allem auf solche Menschen aus, die schon die Abfahrt von der Überholspur des wilden Lebens gefunden haben oder gerade dringend nach ihr suchen.

Die Regeln scheinen das widerzuspiegeln: Ehe es überhaupt zum Gekloppe kommt, sitzen sich die Kämpfer zunächst ruhige vier Minuten am Schachbrett gegenüber. Erst dann starten sie in die erste von maximal fünf dreiminütigen Boxrunden. An diese anschließend gibt es jeweils eine kurze Pause, in der die Kontrahenten die Handschuhe abstreifen, sich - um Coaching auszuschließen - Kopfhörer mit Meeresrauschen überstülpen, um dann mit den Figuren statt mit den Fäusten zu streiten, getreu dem martialischen Motto der Tour: "Fighting is done in the ring. Wars are waged on the board."

Was aber - etwa für den Polen Piotr Pukos im ersten Fight des Abends - wie eine höchst notwendige Pause in der harten Auseinandersetzung im Ring wirkt, erweist sich im Verlauf der Kämpfe als ein Spannungs- und Aggressivitätsturbo. Aus seiner Überlegenheit am Brett zieht Pukos die Nehmerqualitäten, die ihn die Schläge von Lokalmatador Sascha Wandkowsky bis zum Sieg durch Schachmatt ertragen lassen; und Wandkowsky seinerseits weiß, dass er den Kampf im Ring unbedingt und schnell durch K. o. entscheiden muss, weil seine zwölfminütige Bedenkzeit am Brett schon fast abgelaufen ist. Später sieht man mit Spannung, dass "Il Dottore" genauso rational boxt wie er Schach spielt. Er habe nach der ersten Runde gewusst, dass der Gegner den entscheidenden Fehler im Ring machen würde, sagt Gianluca Sirci, darauf habe er seine defensive Taktik am Brett abgestimmt.

Die ganze Sache hat also etwas sehr Einleuchtendes an sich und ist dabei deutlich unterhaltsamer als das unerträglich vermuffte Biathlon. Das findet auch ein großer Teil des mittigen Szenepublikums. Sehr ernsthaft werden die auf zwei Leinwände projizierten Züge der Spieler kommentiert und gelungene Aktionen mit Juchzern begleitet.

Nicht ganz so war das Publikum freilich mit dem Star des Abends - dem Berliner Frank Stoldt - zufrieden. Der sollte gegen 1 Uhr morgens seinen Weltmeistertitel im Halbschwergewicht verteidigen. Doch in der 5. Runde musste der 37-jährige Bereitschaftspolizist gegen den erst 19-jährigen Russen Nikolay Sazhin aufgeben und die erste Niederlage seiner 3-jährigen Schachboxkarriere hinnehmen.

"Ich hätte von Nikolay mehr Respekt gegenüber meinem Alter erwartet", sagte der ziemlich enttäuschte Berliner nach dem Kampf - und schloss auch ein Ende seiner Karriere nicht mehr aus. "Ich kann im Augenblick noch nicht sagen, ob ich weitermache. Momentan habe ich aber keine große Lust mehr."

Doch insgesamt ist dieser Abend ein durchaus gelungenes Spektakel. Wobei ohne den auf Wunsch auch durch Champagner am Platz beflügelten Willen zur Stimmung freilich auch hier letztlich wenig abgeht - der Sport ist ein nettes Warm-up für die anschließende Party, das lächerlich provinzielle Brimborium bei normalen Boxveranstaltungen wird dankenswerterweise nur ironisch zitiert. Das Bier kostet vernünftige 2,80 Euro, aber alle trinken ausgiebig Prosecco, weil, wie ein Mitveranstalter sagt, das hier "Familiy" sei.

Schachboxen ist das typische Gewächs einer älter gewordenen Berlin-Mitte-Szene, die wohl oder übel hat erfahren müssen, dass zehn Minuten Yoga oft mehr jobrelevante Kreativität freisetzt als eine vor dem Bildschirm vergrübelte oder durchkokste Nacht. Und weil, was in der Hauptstadt geschieht, immer eine Vorbildfunktion hat, erklären wir Schachboxen hiermit zur Trendsportart und prophezeien ihm eine große und bunte Zukunft: Box! beziehungsweise: Chess!

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