Zu Besuch im Ethik-Unterricht: Über das ganze Leben reden

"Pro-Reli"-Debatte: Was wird im Fach Ethik eigentlich unterricht? Zu Besuch in der Albert-Schweitzer-Schule in Neukölln und der Goethe-Oberschule in Lichterfelde.

Mit den Ethik-Hausaufgaben beschäftigt? Bild: AP

Es sieht so aus, als hätten die Achtklässler nichts gegen arrangierte Ehen einzuwenden. "Und, was haltet ihr nun davon?", bohrt Wolfgang Scheuermann-Peilicke nach. Keiner meldet sich. Einem Mädchen fallen die Stifte von der Schulbank. Herr Scheuermann, wie sie ihn hier nennen, schaut irritiert in die Runde. Niemand reagiert.

Gerade hat der Ethiklehrer mit den Schülern einen Text gelesen und den zentralen Satz an die Tafel geschrieben: "Der Nutzen und die wirtschaftliche Notwendigkeit sind eine bessere Grundlage für die Ehe." Besser als die Liebe. Die Jugendlichen haben das Lamento des konservativen Autors nach und nach zusammengefasst.

"Heute heißt es nicht mehr: ,bis dass der Tod euch scheidet'. Viele haben im Leben zwei bis drei Partner." - "Die Scheidungen wurden mehr." - "Kinder fragen nicht mehr nach der Meinung der Eltern." Dass darauf kein Widerspruch kommt, damit hat Scheuermann nicht gerechnet. "Melike*, was meinst du?" - "Wie war noch Ihre Frage?" Es klingelt. Die erste Ethikstunde ist um.

Ethikunterricht an der Albert-Schweitzer-Schule in Neukölln. Einigen Jungen hängen dicke Silberketten unter weißen Sweatshirts um den Hals. Die Mädchen haben sich in enge Jeans gezwängt, drei tragen Kopftuch. Von den 19 im Unterricht anwesenden Schülern sind 13 muslimisch. Ein Protestant geht in die Klasse, eine Orthodoxe und zwei Buddhisten. Katholiken gibt es nicht. Zwei sagen von sich, sie seien konfessionell nicht gebunden. Keine ungewöhnliche Mischung für das Gymnasium am Hermannplatz: Der Anteil der Schüler nichtdeutscher Herkunft liegt bei 80 Prozent.

Wie lange werden diese Jugendlichen noch gemeinsam in Ethik unterrichtet? Sollte die Initiative "Pro Reli" beim Volksentscheid am 26. April Erfolg haben, müssten sich die Schüler in Zukunft zwischen den Fächern Ethik und Religion entscheiden. Ein großer Rückschritt, warnen die Gegner von "Pro Reli": Gerade in gemischten Klassen sei es wichtig, ein Fach zu bieten, in dem sich die Schüler über die wichtigsten Werte der Gesellschaft austauschen können.

Das ist auch der Grund, warum der rot-rote Senat den verpflichtenden Ethikunterricht für alle Siebt- bis Zehntklässler 2006 eingeführt hat. Der Rahmenlehrplan sieht vor, dass sich die Jungen und Mädchen mit verschiedenen Themenblöcken auseinandersetzen - von Glück, Identität und Freundschaft über Diskriminierung, Gewalt und Toleranz bis hin zu Religion und Glauben. Sie sollen die eigene Position reflektieren und lernen, die Einstellungen anderer zu respektieren.

Im Akademikersprech des Lehrplans klingt das so: "Erste Bezugsgröße des Unterrichts ist die Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler." Es solle deutlich werden, "dass es einerseits eine Pluralität von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen gibt und dass andererseits eine Verständigung über einen Minimalkonsens notwendig ist" - die "Grundrechte, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind".

Den Achtklässlern an der Albert-Schweitzer-Schule gefällt dieser Unterricht, meistens jedenfalls. "Ethik ist was Gutes, da redet man über das ganze Leben", sagt Melike, deren Familie aus der Türkei stammt. Ihre Tischnachbarin kurdischer Herkunft nickt: "Am interessantesten ist es, wenn es um Freundschaft, Liebe, Mädchen und Jungen geht." Trotzdem würden viele in der Klasse statt Ethik den muslimischen Unterricht wählen, wenn sie sich - wie es "Pro Reli" will - zwischen beiden entscheiden müssten. "Würde der Unterricht dann auch von einem Moslem gegeben?", fragt ein türkischstämmiges Mädchen nach. Das ist ihr wichtig. "Die Jugendlichen haben ein Verlangen nach Identität", glaubt Lehrer Scheuermann. Ein islamischer Religionsunterricht - der bisher nur an Grundschulen angeboten wird - könnte dazu beitragen.

Genau das ist ein Argument von "Pro Reli": Jeder solle zunächst in seiner religiösen und kulturellen Identität bestärkt werden. Nur wer sich seiner eigenen Haltung sicher sei, könne auch mit anderen Positionen umgehen. Scheuermann weist das zurück: "Die Schüler werden im gemeinsamen Ethikunterricht gezwungen, ihre eigenen Haltungen zu hinterfragen. Sie müssen über ihren Schatten springen." Das sei manchmal unbequem für sie, aber wichtig.

Scheuermann stammt aus Würzburg, er ist gläubiger Katholik. Als Schüler besuchte er ein Internat der Franziskaner. Eigentlich hat er Geschichte und Philosophie studiert. Im Referendariat machte er an zwei Wochenenden eine Fortbildung zum Ethiklehrer. Er ist von Ethik als Pflichtfach überzeugt. "Wenn alle getrennt unterrichtet werden, geht jegliche Gemeinsamkeit verloren."

Zu Besuch an der Goethe-Oberschule in Lichterfelde. Als Jörg Freese vor der neunten Klasse steht, erheben sich die Schüler von ihren Plätzen und werden still. Mit diesem kleinen Ritual beginnen sie jede Ethikstunde. Heute geht es um den Umgang mit der Natur, um Lebensmittel und Gentechnik. "Die Zahl der hungernden Menschen steigt jährlich", erklärt ein blondes Mädchen. Sie präsentiert ein buntes Plakat, das sie mit anderen zusammen konzipiert hat. "Die Gentechnik verspricht, dass sie die Welt ernähren kann. Aber die Realität sieht anders aus", sagt eine Schülerin mit Nietengürtel. "Unser Fazit: Wir finden, dass Gentechnik kein Mittel gegen Hunger und Armut ist." Ihre Mitschüler klatschen.

Nachwuchs in einem gutbürgerlichen Stadtteil: Die Jugendlichen tragen Kapuzenpullis und Turnschuhe. Den cooleren Jungs hängt der Pony tief in die Stirn. Manche Mädchen sind dezent geschminkt. Die Gemeinsamkeiten muss man nicht lange suchen: Migranten, Prolls, Punks - gibt es kaum. Die Schülerschaft ist homogen, der Anteil der Kinder nichtdeutscher Herkunft liegt unter 3 Prozent.

Ist ein gemeinsamer Ethikunterricht an einer solchen Schule nötig? "Mit ist es wichtig, mit den Schülern über die Möglichkeiten eines gelungenen Lebens zu reflektieren", sagt Freese. Wenn er demnächst keine ganze Klassen mehr unterrichten sollte, sei das für ihn aber kein Problem. Freese hat neben Biologie und Geschichte evangelische Theologie studiert. Er würde sich für die Religionslehrer freuen, sagt er. "Sie bekommen zurzeit nur Randstunden. Ihr Fach wird nicht benotet, die Schüler nehmen es nicht ernst. Für die ist die Situation im Moment wirklich furchtbar."

Religion taucht im Ethik-Lehrplan nur in einem von sechs Themenbereichen auf. Es wird aber ausdrücklich erwünscht, die Religionsgemeinschaften in den Unterricht miteinzubeziehen. Die Goethe-Oberschule hat daher ein Kooperationsmodell entwickelt: In den siebten Klassen unterrichten eine Ethik- und eine Religionslehrerin etwa die Hälfte der Stunden gemeinsam. "Wenn wir zum Beispiel über Religion reden, erkläre ich den historischen Teil und meine Kollegin das Glaubensbekenntnis", erzählt Dagmar Porzelt, Ethiklehrerin und stellvertretende Schulleiterin.

Reine Zeitverschwendung

Genauso engagiert wie über Gentechnik diskutieren die Schüler der neunten Klasse über "Pro Reli". Von den rund 30 Jugendlichen ist die eine Hälfte evangelisch, die andere Hälfte konfessionslos. Sieben Schüler besuchen zusätzlich den freiwilligen Religionsunterricht. "Dann hätten wir zwei Stunden weniger Unterricht", freut sich einer von ihnen. Ein Mädchen sagt, sie empfinde den Ethikunterricht als Zeitverschwendung. "So lange über Glück zu reden und so, das ist doch unwichtig." Eine andere widerspricht. "Es ist gut, dass wir zum Beispiel auch über verschiedene Religionen sprechen."

Immer wieder taucht in der Diskussion ein Argument auf: Die Schüler wollen die Wahl haben. "Jeder kann dann selbst entscheiden, was er belegt. Da verliert keiner bei", meint ein Junge. Würde der Volksentscheid in dieser Klasse durchgeführt, "Pro Reli" wäre der Sieg sicher: 24 Jugendliche stimmen für die Einführung eines Wahlpflichtfachs Religion. Fünf sind dagegen, einer enthält sich.

Zurück an der Albert-Schweitzer-Schule. Nach der Pause spitzt Lehrer Scheuermann seine Frage zur arrangierten Ehe noch mal zu. "Was haltet ihr nun von einer Familie ohne Liebe?" Ein bulliger Dunkelhaariger sagt: "Eine Familie ohne Liebe kann nicht zusammenhalten." Ein Junge mit Basecap beschmeißt einen anderen mit einem Lineal. Adnan meldet sich: "Ich finde es eklig, wenn man jemanden heiraten soll, den man nicht kennt."

Ein gelangweiltes Mädchen zeigt derweil ihrem Klassenkameraden gegenüber ein Zettelspiel. "Schwul, lesbisch, ficken, ablecken, küssen" und ein paar Namen stehen auf dem gefalteten Papier. Der Junge soll wählen zwischen den Farben und Zahlen. Je nach Kombination ergibt sich, mit wem aus der Klasse er was macht. Er quietscht: "Ihh, ich ficke mit Fulya."

"Ruhe!", ruft Scheuermann-Peilicke. Und dann kommt doch noch eine Diskussion auf. "Meistens werden die Frauen zwangsverheiratet. Sie haben keine Rechte und werden nicht glücklich", erklärt die türkischstämmige Melike. In manchen Gegenden der Türkei sei das noch immer so. "Haltet ihr das für richtig?", setzt Scheuermann nach. "Nee, die Frau wird verkauft. Das ist ja wie mit Spielertransfers im Fußball", ruft einer der Jungen. Sein Tischnachbar sagt: "Früher war die Meinung der Frauen nicht wichtig. Aber heute müssen die Männer die Frauen respektieren. Sie können selbst entscheiden, was sie wollen." Der Lehrer atmet durch. "Sehr schön, Deniz, vielen Dank."

Nach dem Klingeln setzt sich Scheuermann-Peilicke ins Lehrerzimmer. Er ist ganz zufrieden mit der Stunde. Nur die familiären Beziehungen sind ein bisschen kurz gekommen. Die wird er noch mal thematisieren. Auch über Freundschaft und Liebe will er noch mal sprechen, sagt er. Und über Homosexualität, das sei für die Jugendlichen ein Reizthema. Herr Scheuermann hat noch viel vor.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.