Kneipenkultur: Vor dem Ei war die Henne

Seit 100 Jahren gibt es die "Henne" in Kreuzberg, und so sieht das "Alt-Berliner Wirtshaus" auch aus: Drinnen ists düster - und meist brechend voll.

Das Haus an der Ecke Leuschnerdamm und Waldemarstraße in Kreuzberg ist eingerüstet. Dämmplatten wurden an die Wände genagelt, der abschließende Verputz fehlt noch. Das Wirtshausschild hängt daher vor dem Gerüst, der Biergarten ist geschlossen. Ein Zettel an der Tür versichert allerdings, dass die "Henne" - so heißt die Schankstube - "weiterhin geöffnet" sei. Die Botschaft ist mehrdeutig, was der Ortsfremde jedoch nicht ahnen kann.

Das Innere der "Henne" ist seit 100 Jahren nur wenig verändert worden, die Schankwirtschaft firmierte schon 18 Jahre nach ihrer Eröffnung als "Alt-Berliner Wirtshaus". Als Paul Liftin dieses Lokal am 24. Juni 1908 zunächst als "Wirtshaus zur Hirschecke" eröffnete, ahnte er nicht, dass das Wirtshaus zu einem Ausflugsziel werden würde. Sein Sohn Konrad führte das Geschäft bis 1968. Er liebte den Altberliner Flair darin so, dass er wünschte, dass auch nach seinem Tod so wenig wie möglich verändert werde.

Allein deshalb findet sich der Gast der "Henne" auch heute in einem Raum wieder, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Die Wände - scheints - bräuchten einen neuen Anstrich, die Theke ist wider den Zeitgeist riesig, der Thekenschrank unförmig, die Einrichtung dunkel, sodass nahezu alles eindringende Tageslicht absorbiert wird.

Dennoch ist die "Henne" meist brechend voll. Denn die Hähnchen, die hier weiterhin nach "Rosel" Liftins Geheimrezept gebrutzelt werden, gelten als einmalig, und nicht einmal im ebenso traditionsreichen "Max & Moritz" fühlt man sich so sehr aus der Zeit gefallen wie hier. Kein Wunder, dass die "Henne" oft als Filmkulisse diente, die Kneipenszenen der "Hauptmann von Köpenick"-Verfilmung mit Harald Juhnke etwa wurden hier gedreht.

Dass diese Kneipe so gut durch die Zeiten kommen konnte, ist nicht selbstverständlich. In der Nazizeit trafen sich hier heimlich SPD-Anhänger. 1961 wurde die Mauer direkt vorm Bürgersteig am Leuschnerdamm errichtet - fiel man angetrunken aus der Kneipe, stieß man sich den Kopf am Eisernen Vorhang. Später sollte die ganze Häuserzeile einem Straßenbauprojekt zum Opfer fallen. Die Stammkunden schrieben einen Protestbrief: "Der Abriss dieser Gaststätte, die sicherlich zu den schönsten Berlins zählt, wäre ein nicht wiedergutzumachender Verlust für die Bürger des Bezirks …"

Petra und Bernd Henne, die das Lokal 1980 von Rosa Liftin übernahmen und dem Laden ihren allzu passenden Nachnamen gaben, fanden die Kneipe daher unversehrt vor. In ihrer Nachfolge schmeißt seit 1991 Angela Leistner das Geschäft. Sie weiß die "Henne" als Kultkneipe zu vermarkten: Soeben ist, zum Ablauf des 100. Geschäftsjahres, ein Buch erschienen, in dem das Lokal etwas zu auffällig gelobt wird. Fotos von prominenten Gästen werden darin präsentiert; die Geschicke der Kneipe werden manchmal sehr gewollt mit denen Berlins verknüpft; Geschichten eher angerissen als erzählt. Dafür findet sich eine Fotostrecke mit Gästen, die in der heutigen "Henne" allzu offensichtlich posieren. Dennoch, Frau Leistners Rechnung geht auf: Man sollte vorbestellen, wenn man eines der legendären "Milchmasthähnchen" verzehren will.

Was aber macht die Kneipe so interessant? Ihr Interieur erzählt von einer guten alten Zeit, die, siehe "Hauptmann von Köpenick", gar keine gute Zeit war, von der man sich allerdings wünscht, dass sie eine gewesen wäre. Geschichte ist zuverlässig, anders als in Gegenwart und Zukunft kann in ihr nichts Unerwartetes geschehen. In Berlin aber wird Alltagsgeschichte ausgespart - selbst dort, wo es eine alte Ladeneinrichtung in die Jetztzeit geschafft hat, regiert bald das Brecheisen, damit eine öde Einheitsladeneinrichtung einziehen kann. Das ist so dumm, dass man sich freut, dass es Räume wie die "Henne" gibt, die zwar mit "Nostalgie" punkten wollen, in denen sich aber - im täglichen Betrieb - das Aufdringliche an der herausgestellten Antiquiertheit des Geschäfts schnell wieder verliert. Und es geht ja sowieso nur um Hähnchen und Bier, die Einrichtung verstärkt dabei den Geschmack. Denn das Auge isst bekanntlich mit.

Klaus Sommerfeld, Wolfgang Chodan: "Die Henne. Die Geschichte einer Kult-Kneipe". Verlag Angela Leistner, Berlin 2009, 106 Seiten, 12,90 €

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.