Berlin und Brandenburg: Zwei ungleiche Schwestern

Berliner sehen Potsdam oft nur als schicke Gartenlandschaft. Potsdamer halten sich für feiner als die Hauptstädter. Was verbindet beide? Ein Essay aus einem neuen Buch über Brandenburg und Berlin.

Auch wenn es falsch ist, dass Potsdamer sich für feiner halten als die Berliner: Ein feines Schloss haben sie mit Sanssouci in jedem Fall.

Ist Potsdam eine Metropole? Nein. Provinz? Schon gar nicht! Was ist Potsdam dann - diese jüngere Schwester von Berlin, mit allen Vor- und Nachteilen, die Zweitgeborene so an sich haben: verwöhnt, von sich eingenommen, strebsam, immer darauf bedacht, nicht zu kurz zu kommen. Als zweite Residenz der brandenburgischen Kurfürsten und der preußischen Könige suchte Potsdam stets, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und so den vermeintlichen Nachteil der späteren Geburt zu kompensieren.

Die gleiche Frage ließe sich auch an die größere Schwester stellen. Was zeichnete Berlin denn aus, dass es die Markgrafen schon 1451 zu ihrer Residenzstadt gemacht hatten? Waren die beiden Flecken an Spree und Havel doch in derselben Wiege geboren. Wasser und Sumpf, eine Furt durch den Fluss, frühere Besiedlung durch Germanen und Slawen, eine deutsche Burg, die zum Schloss wird, Rathaus, romanische Feldsteinkirche, Fischer, Handwerker, Windmühlen. Nur lag Berlin etwas günstiger, nämlich an einem Handelsweg. Dort siedelten Bürger, die sich für weltläufig hielten, weil sie dem Bund der Hanse zugehörten, während sich in Potsdam alles um den Fischfang drehte.

Doch es gab in dieser Frühzeit noch keine Rivalitäten zwischen den Geschwistern. Sie wuchsen auf, überstanden Kriege wie schwere Krankheiten, kämpften sich durch, und jede war sich selbst genug. Eine bewusste Beziehung zwischen beiden entspann sich erst, als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I. bei einem Aufenthalt in Potsdam dessen Liebreiz zwischen Seen und bewaldeten Hügeln entdeckte und es bald zu seiner zweiten Residenz erkor. Mit sicherem Blick erkannte er weitere Vorteile: den Wildreichtum der Wälder, kein aufmüpfiges Bürgertum weit und breit, die Nähe zur Residenz Berlin.

Der Freund Johann Moritz von Nassau-Siegen, den der Kurfürst einlud, sich Potsdam anzusehen, teilte dessen Begeisterung. "Das gantze Eyland muß ein Paradies werden", schrieb er 1664 an den Kurfürsten. Mit diesem Ausruf begann die erstaunliche Karriere des Fleckens an der Havel. Endlich konnte die Zweitgeborene zeigen, was in ihr steckte. Mit Berlin wollte sie nicht konkurrieren; es genügte ihr, geliebt zu werden. Aber darauf bestand sie. 1666 schrieb der junge Kurprinz und spätere König in Preußen, Friedrich I.: "Mein Herr Vater hat Potsdam sehr lieb. Es ist ein lustiger Ort, ich bin gern da."

Auch seinem Sohn, dem Soldatenkönig, lag Potsdam am Herzen, allerdings verordnete er dem "lustigen Ort" mehr Strenge und baute ihn zu einer Militärstadt aus. Der Urenkel des Großen Kurfürsten, Friedrich II., fand wieder mehr Gefallen an der heiteren Seite der Zweitgeborenen und tat viel dafür, sie zur Geltung zu bringen. "Potsdam, Potsdam, das brauchen Wir, um glücklich zu sein", seufzte er 1758 fern der Stadt im Feldlager des Schlesischen Krieges. Und so ließen es sich die preußischen Herrscher bis hin zu Friedrich Wilhelm IV., dem "Romantiker auf dem Thron", angelegen sein, die besten Baumeister, Handwerker, Gartenarchitekten in Potsdam zu beschäftigen.

Zwar war Berlin seit 1710 zur "Königlichen Haupt- und Residenzstadt" aufgestiegen, doch Potsdam war deshalb noch lange nicht Provinz. Hier trugen die Herrscher gleichsam Freizeithemd und Sandalen und träumten sich nach Arkadien. Regieren taten sie dennoch, auch hier. Das 1685 vom Großen Kurfürsten erlassene Toleranzedikt von Potsdam ließ Europa aufhorchen. In der Folgezeit zog es Diplomaten und Gelehrte, Künstler und Potentaten aus vielen Ländern in die zweite Residenz.

Außerdem lebten die Potsdamer spätestens seit dem Soldatenkönig nicht mehr nur von der Fischerei, sondern standen auf der Lohnliste der königlichen Kasse - als Soldaten, Beamte, Lieferanten, Handwerker, Kutscher, Gärtner, Diener, Zofen. Bei einer im Vergleich zu Berlin geringeren Bevölkerungszahl diente ein weitaus größerer Teil der Einwohner dem Hof, was dazu führte, dass die Könige bis in deren Privatleben hineinregierten. Das störte die Potsdamer nicht sonderlich, im Gegenteil: Sie brüsteten sich, über die besten Beziehungen bei Hofe zu verfügen und das Gras wachsen zu hören.

Die Berliner, weltläufiger und selbstbewusster, waren nicht darauf aus, von ihrem König geliebt zu werden. Sie machten sich über die Aufschneider und Großmäuler lustig, und so kam es nicht selten zu blutigen Raufereien. Wie diese Wirtshausstreitereien auch endeten - die Potsdamer fühlten sich den Berlinern überlegen. Wenn ihre Stadt auch kleiner war und niemals Hauptstadt werden würde, so war sie doch feiner. Das Wasser war besser, die Luft reiner, die Schlösser waren schöner. So ließ es sich in der zweiten Residenz gut leben. Als das Königreich Preußen im Kaiserreich Deutschland aufging, wuchs Berlin explosionsartig, die Industrialisierung zog immer mehr Menschen an. Kunst und Wissenschaft blühten. Jetzt spielte die Musik endgültig in der zur Metropole heranwachsenden Hauptstadt.

Potsdam dagegen blieb klein, auch wenn die Segnungen der neuen, schnelleren Zeit nicht an der Stadt vorbeigingen. Das Königlich-preußische Astrophysikalische Observatorium, der Luftschiffhafen, repräsentative Verwaltungsgebäude, eine Infrastruktur auf dem letzten Stand der Technik befriedigten den Stolz der Potsdamer und nährten ihre Überlegenheitsgefühle gegenüber der lauten Metropole.

Die Katastrophe ereignete sich am 28. November 1918. Der Kaiser dankte ab. Nun gab es keine erste und keine zweite Residenz mehr, sondern nur noch Hauptstadt und Provinz. Potsdam stürzte tief. Bisher hatte die Stadt von und mit den Königen gelebt und daraus ihr Selbstverständnis bezogen. Während sich das Berlin der Weimarer Republik zu einer faszinierenden, aber auch gefährdeten Weltmetropole herausputzte, trug Potsdam ein Witwenkleid.

Die Stadt mühte sich, Anschluss an die veränderten Zeitläufte zu finden. Durch Eingemeindungen umliegender Dörfer und schließlich von Nowawes/Babelsberg vergrößerte sie ihr Gebiet. Das reiche kulturhistorische Erbe sollte Geld in die Stadtkasse spülen, indem eine geschickte Werbung Fremde anlockte. Und sie kamen tatsächlich in Scharen: Kunstfreunde, Naturliebhaber, Nostalgiker. Der in Potsdam-Bornstedt lebende Schriftsteller Eugen Diesel sprach den gedemütigten Potsdamern das heilende Wort für ihre verwundete Seele zu: "Potsdam verklärt den Deutschen Berlin." Eine Stadt, die einer Metropole erst zu ihrer Schönheit verhilft, kann niemals Provinz sein.

Als die Nationalsozialisten im März 1933 in der Garnisonkirche die "Vermählung zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft" inszenierten, mag das vielen in der zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen einstigen Residenz neue Hoffnung gegeben haben. Doch sie währte nicht lange. Nichts war dem Weltkriegsgefreiten aus Braunau am Inn fremder als dieses preußische Adelsnest, das er dann auch gründlich ausräumte. Die Bombenangriffe der Alliierten und der Einmarsch der sowjetischen Truppen besorgten den Rest.

Aber noch im Untergang schien die Zweitgeborene der großen Schwester den Rang ablaufen zu wollen. Im August 1945 trafen sich die Siegermächte im Schloss Cecilienhof zu einer Konferenz, um über Deutschlands Schicksal zu entscheiden. Nicht auf das total zerstörte Berlin richteten sich die Augen der Welt, sondern auf Potsdams schönsten Ort zwischen Heiligensee und Jungfernsee! Danach verloschen alle Lichter, Potsdam versank im Dunkel.

Auch Berlin war nicht mehr das, was es einst gewesen. Die gevierteilte Stadt, von dem sich ein Teil Hauptstadt der DDR nannte, galt in der Welt eher als Kuriosum denn als Metropole. Die Regierenden der DDR konnten mit preußischer Vergangenheit so wenig anfangen wie zuvor die Nationalsozialisten, und Potsdam galt ihnen als Brutstätte eines verbrecherischen Absolutismus, den man ausrotten musste - ob in der Denkungsart oder in den verfallenden Gebäuden, die einstigen Glanz noch ahnen ließen. Von Westberlin bald durch die Mauer getrennt, von der Hauptstadt der DDR durch weite Umwege entfernt, fristete Potsdam das Leben einer vernachlässigten Provinzstadt. Viele Bewohner flohen in den Westen, Flüchtlinge aus dem Osten traten an ihre Stelle. Mitarbeiter der Staatssicherheit, Soldaten der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee, Partei- und Staatsfunktionäre richteten sich zwischen Brauhausberg und Pfingstberg ein. Eine Beamten- und Militärstadt blieb Potsdam, doch nun grau, mürrisch, ohne Vergangenheit und mit einer zweifelhaften Zukunft.

Was keiner mehr für möglich gehalten hatte, trat nach dem Fall der Mauer im November 1989 ein: Berlin wurde wieder Hauptstadt und Potsdam die Stadt, der man Liebeserklärungen machte. Bürgerinitiativen, Mäzene, ehemalige Bewohner, die der Stadt ihrer Jugend und ihrer Vorfahren zu Hilfe eilten, kapitalkräftige Geschäftsleute, die mit raschem Blick die Schönheiten und Vorzüge Potsdams erkannten, erlösten die Stadt aus ihrem Aschenputtel-Dasein. Sie alle brauchen Potsdam, um glücklich zu sein, auch ihnen verklärt die Stadt das nahe Berlin.

Obwohl sich die Zusammensetzung der Bevölkerung seit dem Großen Kurfürsten ständig durch Zuzug, Weggang, Kriege veränderte, blieb der Charakter der Stadt fast unverändert. Die Zweitgeborene will Aufmerksamkeit und Zuneigung. Sie besteht auf ihrer Exklusivität. Dieses Bestreben treibt manchmal seltsame Blüten, wenn Potsdam versucht, sich mit überdimensionierten Bauprojekten und unreflektierter Moderne an der großen Schwester zu messen, und so Gefahr läuft, den Ast abzusägen, auf dem es sitzt.

Berliner wiederum neigen dazu, gönnerhaft auf Potsdam herabzublicken und in der Garten- und Schlösserlandschaft nicht viel mehr zu sehen als eine Spielwiese oder bevorzugte Wohngegend reicher Hauptstädter. Die Geschichte aber hat gezeigt, dass es den ungleichen Schwestern auf Dauer nur gut geht, wenn jede in ihrer Eigenart gedeiht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.