Von unten nach oben

Eine Podiumsdiskussion stellt fest: Mitbestimmung gelingt nur, wenn Politiker aktive Bürger ernst nehmen

„Wir sind in einer Phase, in der die Bürger sich wieder neu engagieren“, findet Werner Orlowsky. Der 79-jährige Moderator der Diskussion „Mythos und Wirklichkeit von Bürgerbeteiligung“ am Dienstagabend im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg hat viele Phasen erlebt: Vor 30 Jahren war er Teil der Protestbewegung gegen unsinnige und unsoziale Stadtplanung, später Baustadtrat für die Grünen, jetzt moderiert er für das „Stadtforum von unten“.

Nach einer Phase der „spontanen Partizipation von unten“ in den 80er-Jahren gab die Politik den Bürgern für ihr Engagement die Strukturen vor. „Die Bürger wurden so in Sachzwänge eingebunden und mussten sich an die Spielregeln halten“, so Orlowsky. Folge: Die Aktivgruppen trockneten aus. Heute ist dagegen ein „neues Engagement“ zu spüren: Ob Landwehrkanal, Bombodrom oder Mediaspree – die Bürger fordern wieder ihr Recht auf Mitbestimmung ein.

Erhard Otto Müller, Mitarbeiter des Vereins Mehr Demokratie, fordert in dem mit gut 60 Zuschauern voll besetzten Saal der Bezirksverordnetenversammlung eine Verfassungsänderung: Genauso, wie dort bereits Parlament (Legislative), Regierung (Exekutive) und die Gerichte (Judikative) verankert seien, brauche es auch eine „Konsultative“. Kein Gesetz dürfe beschlossen werden, bevor nicht die Bürger angehört worden seien. Müllers These: „Die Demokratie wird das 21. Jahrhundert nicht überleben, wenn sie die Bürger nicht einbezieht.“ Als Vorbild nennt er Essen, wo es verpflichtende Schulungen für Verwaltungsmitarbeiter gebe, in denen diese lernen, wie man die Bürger besser einbeziehen kann.

Auch das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen sollten nach Müllers Meinung neu besetzt werden. Provokativ fragt er: Wenn nur 70 Prozent der Bürger zur Wahl gehen, warum dürfen die Parteien trotzdem 100 Prozent der Sitze für sich beanspruchen? Seiner Meinung nach sollten die Sitze der Nichtwähler an die Vertreter von Initiativen und Verbänden vergeben werden.

Ulrich Lautenschläger berichtet, sein Ziel als Quartiersmanager im Neuköllner Körnerparkkiez sei es, „die Bürger zu aktivieren, sie für Engagement und Verantwortung zu gewinnen“. Ein Quartiersbeirat mit 30 engagierten Bewohnern entscheidet über die Verwendung von rund 300.000 Euro pro Jahr. Als Problem sieht Lautenschläger die unterdurchschnittliche Beteiligung von Migranten in den Quartiersräten. Bei einer Untersuchung von zehn Quartieren kam heraus: Migranten sind dort nur mit 24 Prozent vertreten, dabei liegt ihr Anteil in den Quartieren etwa doppelt so hoch.

Nach zwei Stunden Vorstellung der Konzepte ist eines immerhin Konsens: Egal ob Senat und Bezirke den Bürgern „von oben“ Strukturen für eine Beteiligung vorgeben oder die Bürger ihre Interessen „von unten“ selbst artikulieren – entscheidend ist, was anschließend mit den Ergebnissen passiert und in welcher Form Parlamente und Verwaltungen darauf eingehen.SEBASTIAN HEISER