Liebe Arme, es ist angerichtet

Auch mit wenig Geld kann man viel Spaß haben, ist Bernd Wagner überzeugt. Man muss nur wissen, wie. Morgen präsentiert der Schriftsteller „Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler“

Reise: Auch wer arm ist, muss ab und an vor dem Berliner Winter fliehen, meint Bernd Wagner (im Bild mit seiner Tochter und Mitautorin Luise). Man suche sich eine Gegend aus, in der das Leben billiger ist als hierzulande. Zum Beispiel die Insel Bali. „Das Problem sind lediglich die Flugkosten. Sie lassen sich aber mehr als ausgleichen, wenn Sie Ihr Zimmer in dieser Zeit untervermieten“ – etwa für 30 Euro pro Nacht. Je länger man wegbleibt, desto billiger wird der Urlaub. Lebensmittel: Glaubt man Wagner, findet man überall in Berlin Essen. Haselnussbäume wachsen in der Gneisenau- und der Schwiebusser Straße, rote Johannisbeeren im Schlosspark Babelsberg. Auch auf Fleisch muss man nicht unbedingt verzichten. Der Schriftsteller fragt: „Warum die zahlreichen Berliner Enten, Schwäne und Tauben immer nur füttern und nicht selbst verspeisen?“ Ausflug: Wer Schiff fahren will, aber kein Geld für teure Tickets hat, der halte sich an die BVG-Fähren, empfiehlt Wagner. Die verkehren zum Beispiel zwischen Spandau und Tegelort, in Schmöckwitz, Oberschöneweide oder auf dem Wannsee. Die Fahrt kostet nicht mehr als ein normales BVG-Ticket. Eine günstige Möglichkeit also, um aufs Wasser zu kommen. Vorausgesetzt, es wird nicht gestreikt. ALL FOTO: EICHBORN

VON ANTJE LANG-LENDORFF

Was ist besser: Viel Zeit zu haben und wenig Geld oder viel Geld und wenig Zeit? Bernd Wagner fällt die Antwort auf diese Frage nicht schwer: „Für mich ist Zeit eindeutig wichtiger“, sagt der Schriftsteller. Zwei Jahre lang bezog er Hartz IV. Und lebte ganz gut damit, wie es scheint. „Arm zu sein ist ein erstrebenswerter Zustand“, sagt er. Sicher, das meine er ein bisschen ironisch. Aber nicht nur.

In dem Buch „Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler“ beschreibt Bernd Wagner, wie man auch mit wenig Geld ziemlich viel Spaß haben kann. Wenn man sich zum Beispiel an den Nationalfeiertagen anderer Länder in deren Botschaften den Bauch voll schlägt. Bei Wagner klingt das so: Es „dürfte kaum eine Woche vergehen, in der Sie nicht im Zeichen der Völkerfreundschaft dinieren und interessante Gespräche führen können.“ Oder wenn man im Theater ein billiges Ticket kauft, sich aber in eine der ersten Reihen setzt – in der Hoffnung, dass da sowieso ein paar Plätze frei bleiben.

Manche der Ratschläge sind eher witzig-schräg, andere durchaus praktikabel: Auf dem Wochenmarkt sollte man immer erst kurz vor Schluss einkaufen wegen der niedrigeren Preise. „Die Natur deckt uns den Tisch“, heißt ein Kapitel, in dem der Leser erfährt, dass zwischen dem Ehrenmal im Treptower Park und dem Plänterwald jede Menge Bärlauch wächst, der nur darauf wartet, gepflückt und verkocht zu werden.

Augenzwinkernd plaudert Wagner über mehr oder weniger legale Strategien gegen Langeweile, Isolation und schlechtes Essen. Eine unterhaltsame Lektüre, die der Autor am Freitagnachmittag der Öffentlichkeit vorstellen will. Mit dabei sein wird seine Tochter Luise Wagner: Sie ist Journalistin und hat die Adressen und Öffnungszeiten für den Serviceteil des Buches zusammengestellt. Auf der Internetseite www.berlinfuerarme.de können Betroffene zudem eigene Tipps loswerden.

Lebenshilfe für Arbeitslose – daran haben sich schon andere versucht. Erst vor drei Wochen hat Finanzsenator Thilo Sarrazin Hartz-IV-Empfängern erklärt, dass man mit dem Regelsatz gut klarkommen könne. Der SPD-Politiker rechnete öffentlich vor, wie viel ein Mittagessen, bestehend aus Bratwurst, Sauerkraut und Kartoffelbrei, kostet. Und erntete für seine Belehrungen allgemeine Empörung.

Was Sarrazin von Wagner unterscheidet, ist die Position, von der aus er spricht. Der Finanzsenator erklärte den Arbeitslosen von oben herab, dass sie sich nicht so anstellen sollen. Sie müssten nur vernünftig haushalten. Auch sein Chef, Klaus Wowereit (SPD), hatte einmal bemängelt, Hartz-IV-Empfänger würden ihr Geld für Handys, Zigaretten, Alkohol oder ein Premiere-Abo ausgeben.

Wagner dagegen gehört zu den Betroffenen. In der DDR war er erst Lehrer, später arbeitete er als freier Schriftsteller. Als Maurer und Helfer bei archäologischen Grabungen verdiente er seinen Lebensunterhalt. Mitte der 80er-Jahre siedelte er nach Westberlin über. Er hatte in den letzten drei Jahrzehnten immer wenig Geld, bis Ende Februar bezog er Hartz IV. Jetzt hat er sich beim Jobcenter abgemeldet.

Anders als Thilo Sarrazin wertet der Schriftsteller die Erwerbslosigkeit auf. „Ich möchte diesen Zustand adeln“, sagt er. Der Hartz-IV-Empfänger ist bei Wagner kein irrationales, Jogginghosen tragendes Wesen, sondern ein findiger, frecher und durchaus gebildeter Berliner, der auf seine Weise dafür sorgt, dass er alles bekommt, was er braucht. Wer sich an die Ratschläge des Autors hält, wird zum Wanderer zwischen den Welten: Die Grenzen zwischen oben und unten sind durchlässig, zeigt Wagner. Man muss eben nur die Wege kennen.

Dazu gehört, dass der Arme sich nicht auf den ersten Blick als solcher verrät. Wagner empfiehlt den Lesern: „Überlassen Sie die Arbeitskleidung – zu der Jeans in allen ihren Abarten zählen – den Besserverdienenden und kleiden Sie sich nach der Devise: Nobel geht die Welt zugrunde.“ Er rät, mal in den Schränken der Eltern und Verwandten nachzusehen. Mit manch altem Anzug könne man auf den Straßen durchaus Aufsehen erregen.

Der „Stadtführer für Arme“ passt in eine Zeit, in der für junge, gebildete Leute ohne festes Einkommen neue Bezeichnungen gesucht werden, weil es so viele von ihnen gibt: Urbane Penner, Prekariat. Wagner glaubt, dass er sein Buch vor zehn Jahren noch nicht hätte veröffentlichen können. „Es birgt ja auch ein Risiko, Armut als positiven Identifikationsbegriff zu wählen.“

Der Stadtführer ist keine sozialkritische Anklage. Wagner nimmt Armut als einen Zustand hin, mit dem man sich arrangieren muss – und kann. „Armut gab es schon immer und wird es auch immer geben“, sagt er. Der Schriftsteller mag es nicht, wenn Arbeitslose in die Opferrolle schlüpfen. „Ich habe mal einen 1-Euro-Job in einem Behindertenzentrum gemacht“, erzählt er. Die anderen Arbeitslosen hätten dagesessen und gejammert. „Die sahen sich als Sklaven.“ Dafür hat er kein Verständnis – und ist dann doch gar nicht so weit von Thilo Sarrazin entfernt.

Bernd Wagner kann dem Mangel viel abgewinnen. Aber dass er seinen drei Töchtern nichts hinterlassen wird, gefällt ihm nicht. Er sagt: „Ich hätte nichts dagegen, mit dem Stadtführer ordentlich Geld zu verdienen.“ Ein bisschen weniger Armut wäre auch noch genug.

Bernd und Luise Wagner: „Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler“. Eichborn Berlin, 8,95 €. Premiere: Freitag, 17 Uhr, Kaufhaus Humana, Frankfurter Tor 3