Die SPD-Fraktion als Ersatzfamilie

Geradezu krankhaft hat eine Mitarbeiterin der Bundestagsfraktion jahrelang technische Geräte auf Kosten der Partei bestellt und selbst benutzt oder verkauft. Vom Amtsgericht wurde sie zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt

Als Bianca R. nicht mehr wusste, wie sie das Verschwinden eines Laptops im Wert von 4.000 Euro aus der SPD-Bundestagsfraktion erklären sollte, erstattete sie bei der Polizei im Deutschen Bundestag Anzeige. Ein unbekannter Dieb habe den Computer aus ihrem Büroschrank gestohlen. Das war im März 2006. Einen Tag später ging die Sachbearbeiterin der Beschaffungsstelle wieder zur Polizei und gab an, den Diebstahl vorgetäuscht zu haben. Doch das war noch nicht alles: Die heute 33-Jährige bezichtigte sich selbst, seit August 2002 regelmäßig und ohne Auftrag technische Geräte für die Fraktion bestellt und für sich selbst verwendet zu haben. Am Dienstag verurteilte das Amtsgericht Tiergarten die gelernte Verwaltungsangestellte wegen Untreue und Unterschlagung in 111 Fällen, einer Urkundenfälschung und des Vortäuschens einer Straftat zu einer Haftstrafe von einem Jahr zur Bewährung.

Am Tag ihrer Selbstanzeige schätzte die Angeklagte den Schaden auf etwa 30.000 Euro. Als die Fraktion ein Jahr später eine vollständige Liste der unterschlagenen Gegenstände erstellt hatte, belief sich der Schaden auf rund 77.000 Euro. Sie habe „zwanghaft und ungesteuert gehandelt“, schrieb die Frau in ihrer Selbstanzeige. „Vieles konnte ich nicht einmal gebrauchen.“ Sie habe diese Geräte dann verkauft und verschenkt, teilweise verschickte sie diese an ihr unbekannte Adressen im Bundesgebiet.

Bei der Begründung des milden Urteils wurde der Angeklagten der Willen zur Schadenswiedergutmachung zugutegehalten. Fast 30.000 Euro hat Frau R. bereits mit Unterstützung ihrer Familie zurückgezahlt. Bis zum Jahr 2020 wird sie monatlich 300 Euro an die Fraktion überweisen. Strafmildernd wirkte auch die Motivation der Angeklagten, die der Richter bei seiner Urteilsbegründung in die Nähe der verminderten Schuldfähigkeit rückte: „Da ist etwas Irrationales bei Frau R. abgelaufen“. Zuvor hatte der sie behandelnde Psychologe geschildert, die junge Frau habe damals unter Selbsthass gelitten: „Es hat mich sehr erinnert an Mädchen, die sich schneiden. Die aus behütetem Elternhaus kommen und Drogen nehmen. Die erbrechen, obwohl sie schon dünn genug sind.“

Auch in ihrer Selbstanzeige ging die Angeklagte schonungslos mit sich um: Sie sei erschrocken gewesen, wie „verlogen ich sein kann“, schrieb sie in Bezug auf die falsche Strafanzeige. Sie könne es verstehen, wenn sie in der Fraktion selbst zur Ermittlung des Schadens nicht mehr erwünscht sei: „Ich erwünsche mich zurzeit auch nicht“, schrieb R. damals und zweifelte, ob ihre Ehe dieses Drama überleben würde.

Die Ursache für ihr Verhalten sieht der Psychologe im Elternhaus der Angeklagten, in dem „alles nett und in Watte gepackt“ war. Doch „die Familie hat nicht gestimmt“, sie war nur eine Wohngemeinschaft. Der Vater war Alkoholiker, die Mutter entdeckte ihre Homosexualität. Bei der SPD-Fraktion erlebte Bianca R. erstmals eine authentische Familie, „vorher war alles nur bemüht“, so der Psychologe. Für den Fachmann ist die Tat eine typische „Symptom schafft sich Konflikt“-Situation, ein unbewusster Konflikt, „der einen Menschen agieren“ würde. Kriminelle Energie sähe er bei Frau R. nicht. Sie habe zwar ihre Wahlfamilie, die Bundestagsfraktion, verloren. Andererseits habe sich ihr Vater endlich seines Alkoholproblems angenommen.

Ein Vierteljahr nach Entdeckung ihrer Taten bekam Bianca R. eine befristete Stelle beim Land Brandenburg, wo man sehr zufrieden mit ihrer Arbeit ist. Auch die Ehe der Angeklagten ist nicht zerbrochen. Nach der Urteilsverkündung nimmt ihr Mann sie in den Arm und gibt ihr einen Kuss. UTA EISENHARDT