„Krankenhäuser sind kein Ort zum Sterben“

Für Teile seiner Zunft ist er das Enfant terrible. Fakt ist: Michael de Ridder ist ein Querdenker unter den Medizinern. Seit 15 Jahren leitet der 61-jährige Chefarzt die Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses in Kreuzberg. Aus dem menschlichen Elend, das er dort sieht, rührt sein Engagement für Randgruppen. Er hat dazu beigetragen, dass Drogenabhängige eine anständige Behandlung erfahren, er prangert Pflegemissstände an. Vor allem aber kämpft er für eine bessere Sterbekultur. Dafür ist er nun vom Humanistischen Verband geehrt worden. Interview PLUTONIA PLARRE Fotos ANJA WEBER

Man könnte fast sagen, das Urban-Krankenhaus in Kreuzberg ist sein Zuhause. Seit 1984 ist Michael de Ridder in der inzwischen zu Vivantes gehörenden Klinik tätig. Seine Schwerpunkte sind Intensivmedizin und Unfallchirurgie. Er war 7 Jahre auf der Intensivstation, 15 Jahre fuhr er Notarztwagen. Die Rettungsstelle leitet er seit 1994. Seit 2008 ist er Chefarzt.

Der Sohn eines Archivars und einer Hausfrau wurde 1947 in Düsseldorf geboren. Seine Mutter beschreibt er als Kämpferin. Anfang der 30er-Jahre sei sie als junge Frau zum Arbeiten nach England gegangen. Seinem Vater habe sie später mit der Scheidung gedroht, wenn er die zwei Töchter (de Ridders Schwestern) kein Abitur machen lasse.

De Ridder hat in Köln und Düsseldorf Medizin studiert. Seine ersten Berufserfahrungen sammelte er in Uetersen und Hamburg. Da kam es vor, dass er nachts allein ein 200-Betten-Haus versorgen musste. Zum Glück hatte de Ridder erfahrene Pflegekräfte um sich. Daher rühre seine Hochachtung vor Pflegekräften, sagt er.

Für sein gesundheitspolitisches Engagement hat de Ridder am 15. März den Ossip-K.-Flechtheim-Preis des Humanistischen Verbandes bekommen. Neben den Drogenabhängigen sind seine Themen Pflegemissstände, Glaubwürdigkeit von Ärzten und vor allem Sterbekultur.

taz: Herr de Ridder, als leitender Arzt der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses sehen Sie viel Leid. Gibt es Dinge, die Sie noch schocken?

Michael de Ridder: Schocken ist der falsche Ausdruck. Neulich brachte die Feuerwehr einen alten Mann, der tagelang in seiner Wohnung neben der Heizung eingeklemmt gelegen hatte. Der Patient war in einem jämmerlichen Zustand. Sein halbes Gesicht war verbrannt, am ganzen Körper fanden sich Brandblasen. Man wird ganz still, wenn man so etwas sieht. Die ganze Rettungsstelle wird still.

Was ist mit dem Mann passiert?

Er ist wenige Tage später gestorben.

Wie oft kommt so etwas vor?

Dass Patienten in Extremzuständen eingeliefert werden, ist in der Rettungsstelle mehr oder weniger Alltag. Man findet kaum einen städtischen Raum in Deutschland, in dem sich sogenannte Randgruppen so konzentrieren wie in Kreuzberg und Neukölln: Arbeitslose, Migranten, Alte, Einsame, Menschen, die am Leben gescheitert sind, Alkohol- und Drogenabhängige, psychisch Kranke. Mit dieser Klientel hat das Urban mehr zu tun als alle anderen Krankenhäuser dieser Stadt. Aber das Urban ist nicht allein ein Kiezkrankenhaus. Es hat auch spezielle Angebote in der Kardiologie und Krebsmedizin.

Treiben Sie die Zustände nicht zur Verzweiflung?

Ich habe in den 90er Jahren für ein Berlin-Buch eine Reportage über die Rettungsstelle geschrieben …

mit der Überschrift „Der Gully von Kreuzberg“.

Der Titel ist damals gründlich missverstanden worden. Er war nicht abfällig gemeint. Weder wollte ich das Image unseres Hauses schädigen, geschweige denn mich abfällig über unsere Patienten äußern. Mir ging es darum, wach zu rütteln. Ich wollte ein Signal an die Gesundheitspolitik geben, dass viel zu wenig für die sozialen Belange dieses Bezirks getan wird, dass Krankheit der sozialen Verelendung folgt. Wir in der Rettungsstelle können die Menschen zwar medizinisch versorgen, aber nichts an den desolaten Zuständen ändern. Gerade für die jüngeren Mitarbeiter ist das manchmal schwer auszuhalten.

Wie dicht ist man als Leiter einer Rettungsstelle an den Patienten noch dran?

Drei Viertel meiner Zeit verbringe ich mit Verwaltungs- und Managementaufgaben. Aber meine Mitarbeiter wissen, dass sie mich jederzeit rufen können. Ich lasse dann sofort alles stehen und liegen. Patientenversorgung hat oberste Priorität.

Was sind das für Fälle, in denen Sie hinzugezogen werden?

Es handelt sich um Patienten, bei denen sich schwerwiegende Fragen ergeben, zum Bespiel wenn ein Verdacht auf Herzinfarkt besteht oder auf diabetisches Koma. Oft handelt es sich um ältere, pflegebedürftige Patienten, die schwerstkrank sind oder bereits im Sterben liegen. Ich habe sieben Jahre auf der Intensivstation des Urban gearbeitet. Ich bin 15 Jahre für das Krankenhaus Notarztwagen gefahren. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Aufgrund dieses Erfahrungsschatzes kann ich gerade jüngeren Kolleginnen und Kollegen manch wertvollen Rat geben. Wir entscheiden dann gemeinsam, ob zum Beispiel einem schwerstkranken alten Menschen noch Intensivmaßnahmen zuzumuten sind oder nicht.

Sind das die Situationen, in denen geklärt werden muss, ob der Sterbende eine Patientenverfügung verfasst hat, die es zu respektieren gilt?

Ja. Kürzlich hatten wir einen 48-jährigen Mann, der im Finalstadium seiner Krankheit eingeliefert wurde. Er litt an amyotropher Lateralsklerose. Das ist eine Erkrankung mit fortschreitender Lähmung, die schließlich auch die Atmung erfasst. Der Mann war schon nicht mehr ansprechbar. Er hatte nur noch eine Lebensperspektive von wenigen Stunden. Von seiner Pflegerin erfuhren wir, dass er schon lange nicht mehr leben wollte. Wir haben dann in der Rettungsstelle einen Raum freigemacht. Der Patienten erhielt eine Morphininjektion und ist dann im Beisein seiner Pflegerin ganz langsam eingeschlafen. So etwas müssen wir hier leisten können. Allen, die hier arbeiten, ist es wichtig, ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Das ist nicht einfach: Krankenhäuser sind keine Orte zum Sterben.

Was wäre ein Ort zum Sterben?

Das Ricam-Hospitz in Neukölln zum Beispiel. Es hat eine wunderbare Lage hoch über den Dächern von Berlin. Die Menschen, die dort arbeiten, haben die Sterbebegleitung zu ihrem Beruf gemacht. Da wird nicht versucht, noch irgendetwas mit lebensverlängernden Maßnahmen wenden zu wollen. Es geht allein um das Wohl des Patienten – darum, dass Sterben ein friedlicher Prozess ist.

Denken Sie über Ihren eigenen Tod nach?

Ja. In meinem Alter kommen die ersten gesundheitlichen Einbrüche, die muss ich verkraften. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich fast zu viel darüber nachdenke. Ich habe das Sterben ja auch außerhalb meines Berufes zu meinem Thema gemacht und viel darüber publiziert.

Was hat Sie dazu bewogen?

Das hat sicher viel mit dem Erlebnis des Sterbens hier in der Rettungsstelle zu tun, das mich immer noch sehr anrührt, geradezu anfasst.

Anrührt in welchem Sinne?

Wie banal das Sterben ist, wie abrupt ein Leben zu Ende gehen kann, gerade hier in Kreuzberg und Neukölln – nicht nur bei älteren Menschen, für die das Sterben absehbar ist. Auch bei jungen Leuten, die aus voller Gesundheit sterben. Wir haben es hier ja auch mit Gewaltopfern von Familienfehden unter Türken zu tun, mit psychisch kranken Suizidanten oder Opfern von Drogen und Alkohol. Ich habe mich übrigens immer eher für die Ränder der Medizin interessiert. Da stellen sich für mich die meisten Fragen. Da liegen die größten Herausforderungen.

Worauf wollen Sie hinaus?

Die Altersarmut in Berlin wächst dramatisch, lesen wir gerade in der Presse. Die demografische Pyramide steht bald Kopf. Wir müssen für ein Umdenken in der Gesundheitspolitik streiten. Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Mittel aus dem Bereich der Akutversorgung, von der immer weniger Patienten profitieren, in den Bereich der Versorgung der chronisch Kranken und der Palliativmedizin verschoben werden.

Wie würden Sie einem Laien Pallitativmedizin erklären?

Auftrag der Medizin ist es, zu heilen. Wenn das nicht mehr möglich ist, ist das Therapieziel nicht mehr Heilung. Es geht einzig darum, schwerstkranken oder sterbenden Patienten größtmögliches Wohlbefinden zu ermöglichen.

Sie haben wiederholt kritisiert, dass Ärzte Sterbenden Magensonden oder Venenkatheter legen, damit sie künstlich ernährt werden können.

Was auf diesem Sektor passiert, kann man oftmals nur als Wahnsinn bezeichnen. Die Natur hat es weise eingerichtet, dass ein Sterbender die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme allmählich einstellt. Der Sterbeprozess wird dadurch erleichtert. Die künstliche Ernährung dagegen erschwert ihn oftmals. Dieses Wissen bekommen gerade junge Ärzte nicht vermittelt. Es könnte helfen, unsere Sterbekultur zu verbessern. Aber man muss auch sagen: Palliativmedizin wird nicht allen Patienten gerecht.

Danke für das Stichwort. Wie stehen Sie zu dem Thema aktive Sterbehilfe?

Sterbehilfe kann vieles umfassen. Man muss zutreffende Begriffe wählen, um zu wissen, wovon man spricht: Geht es um Behandlungsabbruch, assistierten Suizid oder Tötung auf Verlangen? Das sind alles Themen, die man nicht in ein paar Sätzen abhandeln kann.

Kann alles so bleiben, wie es ist?

Nein. Ich will keine Grauzonen im Sterben. Ich will Transparenz. Und ich will eine Debatte der Ärzteschaft über die Patienten, die zu Dignitas in die Schweiz fuhren oder sich von Herrn Kusch [Roger Kusch, der einstige Hamburger Justizsenator, der einen Selbsttötungs-Automaten konstruiert hat; d. Red.] helfen ließen. Es kann jedenfalls nicht sein, dass die ärztliche Standesethik höher steht als das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Ärzteschaft muss sich der Diskussion öffnen.

Genug vom Sterben. Auch was Drogenabhängige angeht, haben Sie sich Meriten verdient.

Die ärztliche Versorgung der Drogenkonsumenten hat mich in den 90er-Jahren sehr umgetrieben. Zusammen mit dem Freien Träger Fixpunkt habe ich seinerzeit das erste Arztmobil auf den Weg gebracht. Dadurch, dass es direkt in den Drogenszenen verkehrt, erreicht man die Abhängigen leichter für Hepatitisimpfungen und Methadonvergabe. Inzwischen gibt es etliche solcher Fahrzeuge. Die Drogenabhängigen sind als Kranke akzeptiert und gelten nicht mehr wie einst als „moralische Versager“.

Was das Anprangern von Pflegemissständen angeht, sind Sie gefürchtet. Für Ihr gesundheitspolitisches Engagement haben Sie gerade den Ossip-K.-Flechtheim-Preis des Humanistischen Verbandes bekommen. Fühlen Sie sich geehrt?

Ich war ziemlich verlegen. Das, wofür ich eintrete – Autonomie des Patienten und gerechte Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen –, sollte zur ethischen Grundausstattung jedes Arztes gehören. Es steht ganz oben in der Charta zur ärztlichen Berufsethik.

„Wir können die Menschen zwar medizinisch versorgen, aber nichts an den desolaten sozialen Zuständen ändern. Gerade für die jüngeren Mitarbeiter ist das manchmal schwer auszuhalten“

Was macht der Arzt de Ridder, wenn er sich nicht mit dem Elend dieser Welt beschäftigt?

Er fährt zu seiner Frau, die in Hamburg als Psychotherapeutin arbeitet. Oder ich helfe unserer 16-jährigen Tochter bei den Aufgaben für den Leistungskurs Biologie.

Sie führen eine Fernehe?

Ja. Meine Frau hat in Hamburg eine großen gewachsenen Klientenkreis. Ich habe mich früher mal mit dem Gedanken getragen, an ein Hamburger Krankenhaus zu wechseln. Aber ich habe das verworfen, weil es meiner Interessenlage nicht entsprach.

Darum sitzen Sie nun jedes zweite Wochenende im Zug?

Jedes Wochenende. Wir haben eine Datsche im Wendland gemietet.

Beschneiden Sie dort Obstbäume und graben den Garten um?

Ich bin ein sehr naturverbundener Mensch. Das Grundstück liegt an einem Hang und grenzt an die Elbauen. Der Garten ist eine traumhafte Mischung von angelegt und verwildert. Es ist einfach wunderschön dort.

In vier Jahren haben Sie das Pensionsalter erreicht. Können Sie sich vorstellen, im Wendland Ihren Lebensabend zu verbringen?

Ehrlich gesagt, kann ich mir überhaupt noch nicht vorstellen, in Rente zu gehen.

Warum sind Sie dem Urban-Krankenhaus eigentlich Ihr ganzes Berufsleben treu geblieben?

Ich bin mit dem Haus auf gewisse Weise verwachsen, auf eine sehr lebendige Art. Die Rettungsstelle ist wie eine Bühne, auf der Tag für Tag die großen Dramen des Lebens aufgeführt werden. Meine Sicht der Medizin und die Impulse für meine publizistische Arbeit – dies alles wurzelt in der Rettungsstelle. Sie ist der Humus für die beiden Themen, die mich als Arzt besonders interessiert haben: die Drogenproblematik und das Lebensende.