Die revolutionäre Führung in der Marktlücke

LINKE GESCHICHTE Vier Studenten führen Berliner und Touristen zu zentralen Orten der Geschichte des 1. Mai in Kreuzberg. Ein Gründerwettbewerb gibt ihnen Schwung. Noch ist alles ein Projekt auf Zeit

„Wir wollen jeglichen Überschuss, den wir erwirtschaften, an linke Projekte spenden“

STADTFÜHRER BILL

Florian ist nervös. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, schaut in die Runde. Es ist erst kurz vor drei, und trotzdem bevölkern bereits mehr als zwei Dutzend Menschen die Mittelinsel am Kottbusser Tor, die alle an der Stadtführung „Revolutionary Berlin“, wie Florian und seine Kommilitonen sie genannt haben, teilnehmen wollen. Zwei Dutzend Menschen, das sind doppelt so viele wie vor einer Woche. Und das heißt, dass die vier Studenten Florian, Bill, Marc und Melanie mit ihrer Idee eine Marktlücke gefunden haben.

Eigentlich war es Bill, der die Idee hatte. Der US-Amerikaner lebte vier Jahre lang in Kreuzberg. „Am 1. Mai habe ich immer gemerkt, dass unheimlich viele Touristen, Erasmus-Studenten, Expats dabei sind, die gar nicht verstehen, was eigentlich passiert“, erzählt er. Für Freunde und Familie habe er begonnen, kleine Führungen zu veranstalten, die die Geschichte des 1. Mai in Kreuzberg erzählen sollten.

Dass die Gruppe die Führungen nun auch öffentlich anbietet, verdankt sie ihrem Studium: Zum einen müssen die Bachelor-Studenten Praxiserfahrung im Bereich Betriebswirtschaftslehre nachweisen. Zum anderen lockte ein Gründerwettbewerb. Die Teilnehmer müssen innerhalb von sechs Wochen beweisen, dass ihre Idee funktioniert. Den ersten drei Projekten winkt ein Preisgeld von insgesamt 2.500 Euro. Funktionieren heißt vor allem: wirtschaftlich funktionieren. Dabei geht es den vieren darum eigentlich gar nicht.

„Wir wollen jeglichen Überschuss, den wir erwirtschaften, an linke Projekte spenden“, erklärt Bill. Wie viel das ist, sei derzeit noch nicht abschätzbar. Die Stadtführung ist kostenlos, die Studenten bitten am Ende um Spenden, um zumindest die Ausgaben für Flyer und Plakate abdecken zu können. Die Arbeit läuft ehrenamtlich, dafür aber umso ambitionierter: Florian führt seine Gruppe auf Deutsch, Bill auf Englisch, die Erasmus-Studenten Marc und Melanie bieten den Rundgang auf Französisch an.

Die Stationen beschränken sich nicht auf die Geschichte des 1. Mai. Die Gruppe geht bei dem Rundgang auch auf die Geschichte der Hausbesetzer- und der linken Szene ein. Vor dem New Yorck im Südflügel des Bethanien machen die Teilnehmer große Augen, als Florian erzählt, dass die Besetzer vor Kurzem eine Gruppe Roma aufgenommen hatten, die im Anschluss eine Kirche besetzte. Die Tour endet nach zwei Stunden am Spreeufer mit der Geschichte des Konflikts um Mediaspree. „Es war sehr spannend“, bilanziert die Ungarin Linda, die durch ein Plakat von der Stadtführung erfahren hat. Die Studentin, die seit zwei Monaten in Neukölln lebt, geriet am 1. Mai ganz unerwartet in die Auseinandersetzungen am Abend. „Ich kannte die ganze Geschichte des 1. Mai in Kreuzberg gar nicht“, erzählt sie. Auch Florian ist zufrieden, das Feedback war positiv.

Am kommenden Samstag wird die Stadtführung zum vorerst letzten Mal stattfinden. Treffpunkt ist wieder um 15 Uhr die Mittelinsel am Kottbusser Tor. Danach fällt die Entscheidung über die Gewinner des Gründerwettbewerbs. „Ob wir weitermachen, müssen wir noch entscheiden“, sagt Bill. Bedarf scheint ja zumindest vorhanden zu sein. SVENJA BERGT