Reichsverteidiger im Frack

Mit Musik ging alles besser: Enrique Sánchez Lansch porträtiert mit seinem Film „Das Reichsorchester“ die Berliner Philharmoniker als Vorzeigeformation der NS-Diktatur

VON HENNING BLEYL

Dass es den Berliner Philharmonikern finanziell nie so gut ging wie während des Dritten Reichs, als sie nachgeordnete Dienststelle des Propagandaministeriums waren und Goebbels als ihr persönlicher „Schirmherr“ fungierte, ist nichts Neues. Ab morgen jedoch ist dieser Teil der Geschichte des seit 125 Jahren bestehenden Orchesters erstmals in bewegten Bildern zu sehen: „Das Reichsorchester“ von Enrique Sánchez Lansch kommt in die Kinos.

Was kann der Film, was das gleichnamige Buch des jungen kanadischen Historikers Misha Aster nicht kann, das im August erschien? Er kann Zeitzeugen zeigen – sofern vorhanden. Unter den drei noch lebenden Philharmonikern dieser Ära fand Sánchez Lansch zwei noch Interviewbare. Es ist ein dokumentarischer Glücksfall, dass diese beiden Männer zwei Haltungen innerhalb des Orchesterkollektivs repräsentieren: Der heute 96-jährige Geiger Hans Bastiaan denkt selbstkritisch über die eigene Rolle nach. Den Part des ewigen Relativierers übernimmt der Kontrabassist Erich Hartmann, 87 Jahre alt. Freundlich sagt er in die Kamera: „Wir haben eigentlich nur unsere Arbeit getan. Wir haben mit Freude musiziert, wir haben einen wunderbaren Dirigenten gehabt und haben an keine Politik gedacht.“

Dazu bestand aus seiner Sicht auch kein Anlass: Goebbels sorgte nicht nur für die Verbuchung des stetig steigenden Philharmoniker-Etats als „Reichsverteidigungsaufgabe“. Bis zuletzt bekamen die Musiker außerdem ihre „doppelte Unabkömmlichkeit“ bescheinigt, selbst „bei unmittelbarer Feindbedrohung“ würden sie an ihrem Arbeitsplatz benötigt. Das Gefühl der Scham, unversehrt und gut genährt mit dem Geigenkasten unterm Arm in Berlin herumzulaufen, nagt heute noch an Bastiaan.

Sánchez Lansch beschäftigt sich ausgiebig mit der Frage, was mit den jüdischen Orchestermitgliedern geschah. „Der wäre doch sowieso irgendwann woanders hingegangen“, sagt Hartmann über seinen 1934 emigrierten Kollegen, den Solocellisten Joseph Schuster. „Ich wüsste nicht, warum mein Vater Berlin hätte verlassen sollen“, entgegnet dessen in der Karibik lebender Sohn im Umschnitt. Auch den Parteigenossen unter den 118 Philharmonikern, von denen es ein gutes Dutzend gab, konnte Sánchez Lansch nur noch mittels der Erinnerungen ihrer Kinder nachspüren. Immerhin erwächst aus diesen narrativen Umwegen eine der schönsten Filmsequenzen: Über einen Terminkalender gebeugt buchstabieren sich die beiden Töchter des Cellisten Karl Rammelt durch den April 1945: „Die haben ja gespielt, bis die Russen kamen!“

Quelle Nummer zwei: das Archivmaterial. Es ist ein Vergnügen, den unglaublich antiquiert wirkenden Dirigierstil der damaligen Zeit zu sehen, die legendäre Fahrigkeit der Furtwängler’schen Einsätze, die im Kollegenkreis immer wieder zur Frage führte: Wie schafft ihr es nur, zusammen anzufangen? Auf inhaltlicher Ebene kommt Wilhelm Furtwängler im Film wohltuend wenig vor. Wohltuend deswegen, weil die Fokussierung auf die Perspektive „einfacher“ Orchestermitglieder tatsächlich neu ist, während der Streit um das Verhalten des Stardirigenten schon unsere Großtanten beschäftigte – meist mit dem Tenor: Wie konnte man dem großen Mann nur so ein kleinkariertes Entnazifizierungsverfahren zumuten!

Letztlich spannend ist ja auch nicht die moralische Frage, ob Furtwängler – wie etwa Toscanini – hätte emigrieren müssen. Sondern die darüber hinausgehende Erkenntnis, wie hervorragend qualitativ hochstehende Kulturleistungen gerade in einem faschistischen Kontext propagandistisch eingesetzt werden können, nicht nur in Gestalt der Auftritte am Vorabend von Reichsparteitagen und Führergeburtstagen. Selbstverständlich kann ein 90-Minüter nicht herausarbeiten, wie präzise die Auslandseinsätze der Philharmoniker auf die jeweilige Interessenlage des Dritten Reichs abgestimmt waren. Dennoch könnte er vielfältiger sein. Lansch orientiert sich strikt am O-Ton und verlässt sich dabei so sehr auf seine beiden Hauptzeitzeugen, dass sich ihre Erinnerungen zu wiederholen beginnen.

Zum hundertsten Geburtstag der Philharmoniker wäre Sánchez Lansch’ spezifischer Dokumentar-Ansatz daher noch ertragreicher gewesen – zumal man auch den Chef noch hätte befragen können: Karajan, protegiert von Göring, beantragte sicherheitshalber gleich zweimal die Mitgliedschaft in der NSDAP. Auch im engeren Sinn hatte Sánchez Lansch ein Zeitproblem: Erst Mitte Juni konnte er anfangen zu drehen. Beim RBB, dem Hauptfinanzier, verweist man in dieser Sache auf umfangreiche Gremienbeteiligungen, etwa die nicht sehr oft tagende „Historische Kommission“ der ARD. In der Tat ist ja auch erst seit 1882 bekannt, dass die Philharmoniker dieses Jahr 125 werden.

Mangels Material musste Sánchez Lansch einen der nur zwei archivierten Konzertmitschnitte ahistorisch zerhackt zwischen die übrigen Filmsequenzen streuen, was jedoch den eindrucksvollen Charakter dieser Auftritte nicht mindert. Das beste Beispiel musikalischer Suggestivkraft liefert der Film freilich eher unfreiwillig: Wenn er zu Aufnahmen von Berliner Trümmerlandschaften die a-Moll-Motivik aus dem zweiten Satz von Beethovens 7. Sinfonie in die Tonspur legt, folgt er damit ebenjenem Heroisierungsmuster, das die Wochenschauen so perfide erfolgreich machte.

Beim „Reichsorchester“ hat Sánchez Lansch nicht die besten Bedingungen, seinen genauen und liebevollen Erzählduktus zu zeigen – und dennoch eine der spannendsten Dokumentationen der letzten Zeit produziert.