Wir sind ganz für Sie da

Wortkarge Figuren, psychologische Genauigkeit, absurder Humor: das 2. Nordwind-Festival will das Bild von nordischer Kunst erweitern. An sechs Spielorten gibt es Performances, Tanz und Theater

VON SIMONE KAEMPF

Am Klingelschild steht „The Dorine Chaikin Institute“. Das klingt klinisch, man könnte also vorgewarnt sein. Dennoch ist man völlig überrumpelt von der Krankenschwester, die einen als Besucher einer Performance wie einen altbekannten Patienten begrüßt: „Schön, dass Sie wieder hier sind.“ Schwester Rositsa bringt mich zu einem Krankenhausbett, das in einem Fünfzigerjahre-Mehrbettzimmer steht. Sie fragt, ob ich mich noch an Schwester Rosenberg erinnere. Ich erinnere mich nicht. Die Schwestern lächeln verständnisvoll, „wir sind ganz für Sie da“. Rositsa bringt Krankenkleidung und Kekse.

Man wird schnell Komplize im „Dorine Chaikin Institute“, man will am Ende auch länger bleiben als die vereinbarten zwei Stunden. Wenn man so ernsthaft mit dem Namen Zula Maria angesprochen wird, nimmt man ihn tatsächlich bald an. Wer einmal in Installationen des dänischen Künstlerduos Signa (Signa Sørensen und Arthur Köstler) steckt, der will nicht mehr raus, gerade weil Realität und Fiktion irritierend durcheinander geraten. In der ersten Behandlung sitzen die zu Patienten erklärten Besucher um einen Tisch und müssen Gegenstände zu Gruppen sortieren. Die beiden Ärzte beobachten, loben und machen sich Notizen. „Wir assoziieren die Objekte genau wie letztes Mal“, ich nicke und erfinde schon Geschichten, warum die Spielzeugpuppe zum Mitpatienten passt. Wahrheit und Einbildung verschieben sich bereits, die Behandlung schlägt an. Bei der gemeinsamen Gymnastik schaue ich schon mitleidig auf die Neueinlieferung, die auf dem Krankenbett sitzt und nicht mitmachen will.

Nonstop 84 Stunden lang konnte man vor kurzem am Schauspiel Köln in Signas „Ruby Town“ in einer Wohnwagen- und Barackenstadt bleiben: mit netten Dorfbewohnern, aber auch mit Militärpräsenz und mysteriösen Gerüchten um gefährliche Strahlung. Signa hat damit schlagartig große Aufmerksamkeit erlangt. Dass „The Dorine Chaikin Institute“ nun im Rahmen des „2. Nordwind-Festivals für nordic performing arts and music“ entstand, ist ein kleiner Coup der beiden Berliner Kuratorinnen Ricarda Ciontos und Katja Kettner.

Signas Anstalts-Installation passt aber auch deshalb gut ins Festivalprogramm, sagen Ciontos und Kettner, weil sich viele dänische Gruppen im Grenzbereich zwischen Performance und bildender Kunst bewegen. Das zweieinhalbwöchige Festival zielt darauf ab, repräsentative Arbeiten aus den nordischen Ländern zu zeigen. Die isländische Musikszene ist mit „Ghostigital“ vertreten, die sehr selbstverständlich archaische Klangkunst mit modernen Beats verbinden. Die finnische und norwegische Tanzszene, in der sich viel tut, gastiert mit der Jo Strømgren Kompani und der Choreografin Eeva Muilu. Und aus Schweden kommt psychologisches Erzähltheater, das dort eine besonders ausgeprägte Tradition hat.

Durch den Boom der wortkarg verrätselten Stücke des norwegischen Dramatikers Jon Fosse hat sich ein Bild festgesetzt: Im nordischen Theater wird viel geschwiegen und viel über den leeren Raum zwischen den Figuren erzählt. „Das ist aber nur eine Erzählweise“, sagt Ciontos. Die Idee zum Festival kam ihr, als sie als Schauspielerin in einer deutsch-skandinavischen Koproduktion bald feststellte, dass Ingmar Bergmans Arbeit viel stärker mit seiner Herkunft verwurzelt ist, als sie es aus Deutschland kannte. Unterstützung fanden die beiden Initiatorinnen dann bei Botschaften und Kultur-Instituten – zurzeit scheint die Bereitschaft groß zu sein, mit internationalen Gastspielen ein Stück kultureller Identität über Ländergrenzen zu transportieren. Spanisches und französisches Theater sind immer wieder in Berlin zu sehen. Gerade erst endete der Italienische Theaterherbst.

Eröffnet wurde das Nordwind-Festival am vergangenen Mittwoch mit einem Monolog über einen jugendlichen Amokläufer. Der schwedische Dramatiker Lars Norén hat „20. November“ für Anne Tismer geschrieben und mit ihr zusammen auch erarbeitet. In Camouflage-Turnschuhen, weißer Hose und Kapuzenpulli steht sie auf der Bühne, halb Hiphopper, halb Söldner, die Halsadern angeschwollen vor Wut: „Ich hab mir das nicht ausgesucht, habt ihr verstanden … Ihr habt mich ausgelacht, bald mach ich dasselbe mit euch … der Mensch ist eine Krankheit.“ Norén hat den Text aus Tagebuch- und Interneteinträgen des 18-jährigen Bastian B. entwickelt, der im November 2006 in seiner Schule im westfälischen Emsdetten mehrere Menschen schwer verletzte und sich selbst erschoss. Es ist das Protokoll eines zutiefst gedemütigten Menschen, der nun selbst demütigen will und für sich die „totale Freiheit“ in Anspruch nimmt. Bedrückend ist die Figur nicht nur, weil ihr Reden längst nicht mehr hilft. In ihrem Glauben an gar nichts mehr, weder an Gott noch an sich selbst, erscheint sie einem plötzlich wie das westliche Pendant zum fanatisch-religiösen Attentäter: mit Logik nicht aufhaltbar.

„The Dorine Chaikin Institute“, Galerie Ballhaus Ost, täglich 12–24 Uhr, das Festival läuft bis zum 2. 12., www.nordwind-festival.de