Keinen Fußbreit den Oligopolisten

Das Festival „The Ghost of Independent Music“ im Eiszeitkino zeigt unabhängige Filme aus den und über die Achtziger, die so großartig wie durchgedreht sind. Etwa eine Fernsehserie, in der John Lurie angeln geht. Oder „Ghost on the Highway“, eine Hommage an die Band The Gun Club

Wenn die Cramps in der Nervenheilanstalt spielen, weiß man nicht, wer Insasse ist

Der Saxofonist John Lurie, dessen Band Lounge Lizards in den Achtzigern Jazz mit Undergroundcredibility mischten und der durch seine Soundtracks für Jim Jarmuschs erste Filme auch bei Jazzverächtern bekannt wurde, hat 1992 sechs Folgen einer so genannten „Fishing Show“ produziert. Da fährt er mit Freunden zum Fischen: Tom Waits fiel er auf einem jamaikanischen Fluss mit einem unwirschen „Rudern!“ in den Gospel, den der Sänger gerade inbrünstig anstimmte, mit dem muffeligen Matt Dillon führte er einen rituellen Anbeiß-Tanz auf, und mit Willem Dafoe erfror er fast beim Eisfischen in Maine, weil die beiden urbanen Angelidioten weder das Loch im Eis noch die Schlafbude richtig hinkriegten.

Die gemächlich vor sich hintrödelnden, dennoch extrem unterhaltsamen sechs „Fishing with John“-Episoden sind eines der vielen Highlights beim „Ghost of Independence“-Filmfestival im Eiszeit, das sich umfassend mit der klassischen „Independent Film and Music“-Definition der Achtziger auseinandersetzt: Majorlabel und -filmproduktionen, Mainstream und Quotenschielerei sind abzulehnen.

Aus dem Jahr 2006 stammt Angelique Bosios Dokumentation „Llik your idols“ über das New Yorker „Cinema of Transgression“, das in den Achtzigern vor allem im Inszenieren bewusst verstörender Bilder – Extremsex, Gewalt, Perversionen – bestand und eine weitere Schnittstelle zwischen Film und Musik darstellt: Henry Rollins, Lydia Lunch, Sonic-Youth-Sänger Thurston Moore und Ex-Swans-Keyboarderin Jarboe sitzen als Talking Heads zwischen den meist schwarz-weißen Super-8- und Kurzfilmen von Nick Zedd und dem zwischenzeitlich als Hustler-Fotograf bekannt gewordenen Underground-Voyeur Richard Kern. Ein Ausschnitt aus einem beeindruckenden Experimentalfilm des damals blutjungen Kunststudenten Jon Spencer zeigt, wie weit verbreitet experimentelles und damit selbstfinanziertes, eben unabhängiges Filmemachen war.

Eine Hommage an The Gun Club, die Band um den 1996 dahingesiechten Sänger und Polytoxomanen Jeffrey Lee Pierce, ist der Film „Ghost on the Highway“, der als Deutschlandpremiere das Festival eröffnet. Kurt Voss lässt FreundInnen, Bekannte, Produzenten und Mitmusiker ihre Erinnerungen an mehr oder noch mehr komische Zeiten mit Pierce herauswühlen, und fängt dabei wunderbare O-Töne ein, etwa, wenn der ehemalige Gun-Club- und The-Cramps-Gitarrist Kid Congo Powers vom Zusammentreffen des Vorsitzenden des Blondie-Fan-Clubs (Pierce) mit dem Vorsitzenden des Ramones-Fan-Clubs (Powers) erzählt, oder die Quintessenz hinter der Gun-Club-Attitude vor allem mit Auf-die-Nerven-Gehen zusammenfasst: Man war eben Independent Punk, damals. Wegen zu teurer Rechte konnte Voss leider nicht eine Sekunde Originalmusik einfügen, glücklicherweise zeigt ein Gun-Club-Konzertfilm („Live at the Hacienda“) aus den Jahren 1983 und 1984 die grandiose Country-Punk-Blues-Slidegitarrenband und den meschuggen Pierce mit seinem dicklichen Brando-Gesicht und seinen wie eine billige Debbie-Harry-Perücke gestylten Haaren auf der Höhe der Zeit.

„About a son“ wiederum ist eine Sammlung von Gesprächen mit Kurt Cobain, die einen wie ein bebildertes Hörspiel fast meditativ in die Welt des unglücklichen Nirvana-Sängers hinabzieht, der hier nicht lange vor seinem Selbstmord schlaue und nachdenkliche Gedanken zu Leben und Kunst äußert.

The Cramps waren schon in den Siebzigern so independent, dass die erste Psychobillyband um Sänger Lux Interior und Gitarristin Poison Ivy 1978 in einer kalifornischen Nervenheilanstalt spielte. Irgendjemand hatte glücklicherweise eine Videokamera dabei, und so kann man nun wackelige, unscharfe und ungemein stimmungsvolle Bilder aus einem der besten Beiträge zum Thema Kritische Psychologie und Anstalten angucken, die es – lange vor Schlingensiefs medienwirksamer Einbindung psychisch Kranker in seine Theaterstücke – je gab: Es ist beim besten Willen nicht auszumachen, wer Insasse ist und wer nicht, wenn Lux Interior mit irrem Gesichtsausdruck und Mikro im Mund seine „Uuuuuuhaaaaa-aas!!!“ stöhnt.

Um das Independent-Wissen zu vervollständigen, kann man Filme über oder von Philip Boa, Daniel Johnston, den Einstürzenden Neubauten, Nick Cave und dem depressivsten und eindringlichsten aller Balladensänger, Scott Walker, anschauen, dessen Walker Brothers in den Sechzigern Charthits landeten, bevor der talentierte Songwriter sich als Solokünstler düster-experimenteller Musik zuwandte. Und neben einem Konzert der Alternative-Psychedelic-Band Subterreneans aus London wird es eine Podiumsdiskussion zum Thema Independence und einen Brunch mit Live-Musik geben – selbstredend keine Major-Band.

JENNI ZYLKA

The Ghost of Independent Music, Filmfestival im Eiszeitkino, 22.–25. 11.