Blaue Flecken auf der Seele

Die Rosa Luxemburg vom Hansaplatz: Das Gripstheater liegt in der biografischen Revue „Rosa“ seiner Heldin mit etwas zu viel Respekt zu Füßen

Jetzt singen sie wieder, und schwanken dazu wie auf hoher See, die Herren Bebel, Kautsky, und Mehring: „Wir sind die letzten Linken, und drohen zu ertrinken, im Sumpf der Reformisten, wenn das Marx und Engels wüssten.“ Dann runden sich ihre Münder in den dicken Backenbärten zu einem langgezogenen Klagelaut: „Roooosa hilf. Rosa mach die Linke stark. Aber treib es nicht zu arg.“ Das Publikum freut sich sehr über die bedächtig die Köpfe wiegenden Bammelbuchsen aus der SPD.

Dialektik mit Musik, das ist es, was das Gripstheater groß gemacht hat. Die Songs am Ende jeder Szene sind als comical relief bitter notwendig im neuesten Stück von Volker Ludwig über das Leben von Rosa Luxemburg. Denn ohne diesen kleinen kabarettistischen Dreh wäre diese lange Folge von Diskussionen, Agitationen, Parteitagen, Sozialistenkongressen, Flügelkämpfen und Verhaftungen dann doch etwas dröge. Viel zu früh wartet man auf den Schluss, der kommen muss, die Ermordung von Rosa Luxemburg im Januar 1919.

Zusammen mit der Regisseurin Franziska Steiof hat Ludwig das Stationendrama „Rosa“ geschrieben. Man kann sich gut vorstellen, wie ihnen schon da jene Szenen am meisten Spaß machten, in denen die Parteigenossen der SPD zurückzucken vor dem Furor und der Klarheit ihrer Heldin, denkt man bei denen doch stets die Gegenwart der Partei mit. Ende November wird der 71-jährige Theaterchef, der seit 39 Jahren das Grips leitet, mit dem Faust-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Zu dessen Höhepunkten zählten die Revuen „Linie 1“ und „Eine linke Geschichte“, die beide das Lebensgefühl eines Jahrzehnts ausmalten. Deren Verspieltheit aber fehlt der „Rosa“, einer strikt linearen Erzählung. Und wie so manches Hollywood-Biopic krankt die Inszenierung daran, sehr viel historische Daten vermitteln zu wollen.

Dreißig Szenen hat das dreieinhalbstündige Stück, mehr als Rosa, die von Regine Seidler sehr niedlich, mitreißend und empfindsam gespielt wird, Knöpfe an ihren Blusen und Röcken hat. Die Knöpfe spielen eine wichtige Rolle, denn wann immer sie an ihnen zu nesteln und zu zerren beginnt, weiß man, dass sehr wohl noch etwas anderes als die Vorbereitung der Revolution sie bewegt: die Liebe und die Lust an der Verführung. Doch kaum sind alle Knöpfe offen, tauchen Manuskripte auf, und zusammen mit den verliebten Revolutionären macht sich Rosa an die Redaktion des nächsten Textes.

Die Rhetorik ihrer Sprache, ihrer Reden, ihrer Briefe ist in das Stück eingeflossen und tut ihm gut; nicht aber der Galopp, mit dem es durch sein Material hetzt. Gerade weil Luxemburgs Gedanken oft eine Wirklichkeit treffen, die sich in der Gegenwart fortsetzt, ist es schade um den fehlenden Raum, dem nachzuspüren. Von den wiederholten Konstellationen, in denen sie gegen eine ganze Riege erstarrter Männer agiert, hätte man dagegen einige missen können.

Trotzdem, sie wächst einem ans Herz, und, es sei nur gestanden, man ist gerührt, wenn sie „die blauen Flecken auf ihrer Seele“ besingt. Ach, wie sie das Leben jenseits der Politik vermisst.

Im Programmheft ist eine hübsche Idee umgesetzt: Es zeigt die kostümierten Schauspieler auf den Berliner Plätzen, die nach ihren historischen Rollen benannt sind. Franz Mehring (Jörg Westphal) am Mehringdamm, Mathilde Jacob (Michaela Hanser) am Mathilde-Jacob-Platz, den Anwalt Paul Levi (Robert Neumann) vor den Plattenbauten am Paul-Levi-Platz, usw. Am Rosa-Luxemburg-Platz sieht man den gleichnamigen U-Bahn-Eingang, nicht aber die Volksbühne, die dort steht. Sie ist ja das Haus, das für einen ganz anderen, anarchischen, wütenden und verausgabenden Umgang mit der Geschichte steht. Etwas mehr davon, dem Mut zum Fragmentarischen, zum auch unkorrekten Draufhauen, hätte man dieser dann doch sehr braven Geschichtsrevue am Hansaplatz oft gewünscht.

Was die Programmheftbilder auch verdeutlichen: Die Inszenierung macht wenig aus diesem Wissen um die historische Distanz, reflektiert nicht die Schichten der Rezeption, durch die sie hindurchmuss. Die früheren Revuen am Gripstheater waren sehr viel näher dran an der Erfahrung dessen, von dem sie erzählten; hier aber bremst der Respekt vor der Person doch sehr die Freiheit im Umgang mit den Theatermitteln. Das ist schade, denn auch gerade das dem Haus oft in langer Treue zugetane Publikum hätte verdient, vom Mut zum unkonventionellen Verhalten der Titelfigur auch etwas mehr in der Inszenierung zu spüren.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Wieder vom 26. bis 29. November, 12. + 13. Dezember, 19.30 Uhr, im Gripstheater am Hansaplatz