Flüchtlingsorganisationen protestieren: Massenabschiebung nach Hanoi

Flüchtlingsorganisationen wenden sich gegen eine geplante Massenabschiebung von Vietnamesen aus Berlin. Sie fordern eine bessere Betreuung für jugendliche Flüchtlinge - und mehr Engagement vor Ort.

Per Sondermaschine sollen die Flüchtlinge nach Hanoi abgeschoben werden. Bild: AP, Frank Augstein

Der Flüchtlings- und der Landesmigrationsrat protestieren gegen die für den 8. Juni geplante Massenabschiebung nach Vietnam. Die Bundespolizei hat für diesen Tag eine Sondermaschine der Air Berlin von Schönefeld nach Hanoi gechartert. Das bestätigt Jörg Kunzendorf von der Bundespolizei der taz. "Es handelt sich um ausreisepflichtige Vietnamesen aus mehreren Bundesländern, darunter aus Berlin", sagt er. Dem Vernehmen nach sind auch in Polen lebende Vietnamesen betroffen.

Von Berlin aus ist es die erste Massenabschiebung von Vietnamesen seit über zehn Jahren. 1.042 Vietnamesen beantragten im vergangenen Jahr Asyl in Deutschland. Damit sind Vietnamesen nach Menschen aus dem Irak und der Türkei die drittgrößte Gruppe von Asylbewerbern. Politisch verfolgt ist nur eine kleine Minderheit von ihnen. Die allermeisten leben in Berlin und Brandenburg, wenige in Sachsen.

Von der Abschiebung betroffen sind jedoch weder die Bootsflüchtlinge, die um 1980 herum in den Westteil der Stadt kamen, noch die ehemaligen Vertragsarbeiter der DDR. Sie und ihre Kinder haben längst ein festes Aufenthaltsrecht oder einen deutschen Pass. Es geht um Flüchtlinge aus den zwei armen mittelvietnamesischen Provinzen Quang Binh und Nghe Tinh, die vor wenigen Monaten oder Jahren in Berlin ankamen.

In dieser vom Aufschwung in Fernost abgehängten und von häufigen Naturkatastrophen heimgesuchten Region schicken Familien oft einen Ernährer oder eine Ernährerin ins Ausland, die ihnen aus dem vermeintlich reichen Europa Geld schicken sollen. Die Flüchtlinge kommen meist mit Schlepperbanden nach Deutschland.

Die Jugendlichen oder auch älteren Vietnamesen stehen in den Ostbezirken am Straßenrand und verkaufen unversteuerte Zigaretten oder sie verdingen sich in vietnamesischen Familien als Kindermädchen, Haussklaven oder in vietnamesischen Geschäften als Hilfskräfte.

Egal, ob man die freien Träger fragt, die sich um diese Flüchtlinge kümmern, die Seelsorger oder die Vietnam-Experten im Landeskriminalamt - man hört dieselben Geschichten: Die Neuankömmlinge kommen hoch verschuldet an und stehen unter enormem Druck, die Schlepperschulden in Höhe zwischen 7.000 und 25.000 Euro abzuarbeiten und ihrem Familien das erhoffte Geld zu schicken. Zahlen sie nicht, werden oft auch Verwandte in Vietnam in Geiselhaft genommen. Sie werden von den Schleuser- und Schlepperstrukturen in Abhängigkeit gehalten, lernen kein Deutsch.

Gerd Bergjahn vom Landeskriminalamt erzählt von einer schwangeren Frau, die zwei Tage hintereinander an ihrem Stammplatz zum Zigarrettenverkauf von der Mafia schwer verprügelt wurde. "Am dritten Tag stand sie dennoch an diesem Platz, um Zigaretten zu verkaufen. So hoch ist der Druck, um Geld zu verdienen." Schwangerschaften bei Zigarettenverkäuferinnen sind gar nicht selten: Die Frauen sehen darin einen Ausweg aus ihrer Perspektivlosigkeit und erhoffen sich ein Aufenthaltsrecht.

Eine Arbeitsgruppe des Flüchtlingsrates befasst sich mit der Situation minderjähriger Flüchtlinge aus Vietnam, die von ihren Eltern zum Geldverdienen nach Deutschland geschickt werden. Eine Idee, die Jugendlichen aufzufangen, ist ein Wohnheim, in dem Jugendliche von den Schlepperbanden abgeschirmt zur Schule gehen, intensiv pädagogisch betreut werden und bei Schulerfolg eine Bleibeperspektive erhalten sollen.

"So ein Heim gehört weit weg von Berlin, damit die Jugendlichen von den kriminellen Strukturen abgeschirmt werden können," sagt Traudl Vorbrodt vom Flüchtlingsrat. Sie weiß, dass so eine Betreuung nur für wenige greifen kann: Wer sich darauf einlässt, kann in absehbarer Zeit weder Schlepperschulden abarbeiten noch die Eltern finanziell unterstützen.

Doch genau das ist der Auftrag, mit dem die Familien sie nach Deutschland geschickt haben. Für junge Menschen aus dem konfuzianistisch geprägten Vietnam ist das Wohl der Eltern oft wichtiger als das eigene Wohl. Vorbrodt weiß, dass manch ein politischer Mitstreiter den folgenden Satz gar nicht gern hört: "Ich frage mich, ob einzelnen Kindern nicht mehr gedient wäre, wenn sie zu Hause bei ihren Familien oder in pädagogisch betreuten Heimen in Vietnam leben als dass sie in Berlin kriminellen Landsleuten ausgesetzt sind."

Das wäre die zweite Lösung, die der Flüchtlingsrat andenkt: Ein SOS-Kinderdorf im bettelarmen Mittelvietnam für Jugendliche, die von ihren Eltern auf die Reise nach Europa geschickt werden sollen oder wurden, finanziert aus deutschen Entwicklungshilfegeldern.

Selbst bei der Polizei weiß man, dass man das Problem der vietnamesischen Migration nicht allein durch Polizeiarbeit und Abschiebungen in Griff bekommen kann. Bernd Finger, Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität, sagte der taz: "Hier sind die gesellschaftlichen Institutionen und die Medien aufgerufen, Projekte in Vietnam zu initiieren, in denen die Familienoberhäupter aufgeklärt werden, unter welchen Bedingungen ihre Töchter und Söhne hier leben."

Denn, so lautet die Erfahrung von Anja Muhs, die mit jugendlichen vietnamesischen Flüchtlingen in Marzahn arbeitet: "Manch einer wäre nie nach Deutschland gekommen, wenn er vorher geahnt hätte, welche Repressalien ihn während der Schleusung und in Deutschland selbst erwarten."

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