Hilfe wird behindert

INTEGRATION Ein Fachtag will auf das Thema „Behinderung und Migration“ aufmerksam machen. Zu selten kommen die Hilfsangebote bei den Betroffenen an

„Ich habe immer alles für sie getan, aber ich dachte, ich muss das alles alleine machen“

Nuran Ceylan

von Eiken Bruhn

Über „Behinderung und Migration“ tauschten sich gestern Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen auf einem Fachtag in Bremen aus. Eingeladen hatte der Verein „Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung“, der auf dieses aus seiner Sicht vernachlässigte Thema aufmerksam machen wollte.

Seit zwei Jahren bietet die Lebenshilfe eine Beratung für muslimische und türkischstämmige MigrantInnen an, finanziell unterstützt von der Stiftung Aktion Mensch. Dabei habe sich gezeigt, dass Migranten und Migrantinnen häufig nicht wissen, welche Rechte sie als Behinderte oder Angehörige von Behinderten haben, sagte am Montag die stellvertretende Geschäftsführerin der Lebenshilfe, Heidi Eikermann. Das liege offenbar auch daran, dass Behörden und Einrichtungen, mit denen die MigrantInnen zu tun hätten, Informationen nicht weiter geben würden – oder selbst zu wenig Erfahrung mit dem Thema hätten, so Eikermann.

Gleichzeitig würden auch die Betroffenen zu wenig nach Hilfe suchen, weil ihnen zum einen das deutsche Sozialsystem fremd sei und zum anderen Behinderung häufig als Krankheit verstanden wird, der man mit Medikamenten begegnen muss – anstatt mit Förderung.

Deutlich wird das am Beispiel der Deutschtürkin Nuran Ceylan. Als vor 18 Jahren ihre Tochter zu früh auf die Welt kam, habe sie gar nicht gewusst, was Behinderung bedeute, erzählt die 35-Jährige. Die Familie ihres Mannes machte sie für die Behinderung verantwortlich und lehnt das Kind bis heute ab. „Ich habe immer alles für sie getan, aber ich dachte, ich muss das alles alleine machen“, sagt Ceylan. Als sie vor wenigen Jahren Kontakt zur Lebenshilfe bekam, habe sie zunächst nicht verstanden, wie ihre Tochter von deren Angeboten profitieren könnte und mochte sie nicht Fremden in Obhut geben. „Ich dachte, rausgehen und spielen – das kann ich doch mit ihr genauso gut.“ Dann allerdings habe sie schnell gemerkt, dass die professionellen Behindertenpädagogen ihre Tochter auf ganz andere Weise fördern können als sie selbst.

Außerdem tue es ihr gut, dass sie jetzt eine so genannte Eingliederungshilfe bekommt – die ihr rechtlich zusteht, von der sie aber nichts gewusst habe. „Ich habe endlich einmal vier Stunden die Woche nur für mich.“ Durch den Austausch mit anderen Angehörigen in einem Elternkreis sei sie zudem selbstsicherer und offener geworden, früher habe sie sich wenig mit ihrer Tochter in die Öffentlichkeit getraut. „Ich hatte Angst, dass die Leute uns anstarren.“

Die gläubige Frau hält ihre Tochter heute für ein Geschenk Gottes – die ihr ganz nebenbei und unerwartet Türen öffnet. So habe die Lebenshilfe eine türkischsprachige Sexualpädagogin eingeladen, die ihr und anderen Müttern etwas über Behinderung und Sexualität erzählte. „Das war neu für mich“, sagt sie, „türkische Frauen sprechen eigentlich nicht über Sexualität“.

Geschichten wie die von Nuran Ceylan kennt die Sozialpädagogin Seyda Isik viele. In der türkischen Kultur gelte vielen Behinderung als Krankheit oder Strafe Gottes, sagt die Leiterin der Lebenshilfe-Beratungsstelle Behinderung und Migration, deswegen kämen viele gar nicht auf die Idee, dass sie ein Recht auf Hilfe haben.

Oder sie machen Erfahrungen wie Hasan Kale. „Ich habe mich nie für meinen Sohn geschämt“, sagt der 60-Jährige, „und habe nach Hilfe gesucht“. Doch zu oft habe er den Eindruck gehabt, sein Gegenüber nehme ihn als Ausländer gar nicht ernst oder aber die Verständigung sei an seinen mangelnden Deutschkenntnissen gescheitert.

Für SozialarbeiterInnen sei nicht nur wichtig, die Sprache ihrer KlientInnen zu kennen, sagt die Beraterin Isik, sondern auch die Kultur. So seien viele Deutsche verunsichert, wenn sie einer Großfamilie gegenüber stünden. „Da muss man auch mit Onkeln und Tanten reden, die spielen eine ganz wichtige Rolle.“