Dem Verlieren entrinnen

INTEGRATIONSTHEATER Laiendarsteller mit türkischem Migrationshintergrund spielen „Flieder und Flagge“, eine Liebesgeschichte über das Fremd- und das Zu-Hause-Sein

Ahmet ist am Wort „Jahrhundert“ gescheitert. Nun sagt er „Epoche“, das ist leichter.

VON CHRISTINE SPIESS

Eine Szene auf der Baustelle. Es ist wie das Kräftemessen von Jungbullen auf der Weide. Wie lange kannst du eine Wasserflasche mit ausgestrecktem Arm halten? Pende (Mücahit Balkay) grinst Sucus (Ali Özer) provozierend an. Die anderen stehen um sie herum. Die Atmosphäre ist aufgeladen. Fünf Minuten? Sucus lässt sich auf das verdammte Spiel ein, verbeißt sich, gewinnt. Spürbar entlädt sich die Spannung. Der Vorarbeiter (Emre Cem) jagt sie trotz Wolkenbruch auf den riesigen Kran. Gefährlich? Ihm doch egal. Da kommt Szuzsa (Suna Turhan), umgarnt Sucus, tanzt vor ihm, lasziv. Dazu spielen die Musiker live auf Gitarre und Saz.

Probenarbeit im Theater Bremen zu „Flieder und Flagge“. Die Regisseurin Maike Krause unterbricht. Das sei ja heute wirklich noch eine Baustelle. Die Schauspieler wissen, was nicht klappte: Text vergessen, Anschlüsse vermasselt, am falschen Ort gestanden. Aber die Stimmung ist gut und die Motivation groß. Die Schauspieler sind Laien, die meisten haben noch nie Theater gespielt. Alle haben einen türkischen Migrationshintergrund: „Flieder und Flagge“ ist ein Projekt der Abteilung Education im Rahmen des diesjährigen Länderschwerpunkt Türkei der Bremer Theater. Die Projektleiterin Rieke Oberländer wollte eine Geschichte erzählen über Fremdsein, Zu-Hause-Sein, über Menschen, die vom Land in die Stadt ziehen und drohen, dort verloren zu gehen. Ihr fiel dazu der Roman „Flieder und Flagge“ des Essayisten und Schriftstellers John Berger ein, eine literarisch dichte Vorlage, weit entfernt von Betroffenenliteratur. Im Zentrum steht die bizarre Liebesgeschichte von Szusza und Sucus, die sich „Flieder“ und „Flagge“ nennen. Aber zugleich ist der Roman eine Reflexion über Arbeit, Leben und Gerechtigkeit. Die Sperrigkeit mancher Figuren, eher Ideen als Personen, machte die Bühnenbearbeitung nicht gerade einfach – schon gar nicht für Laien, meint Maike Krause. Manche Sätze leichtgängig zu machen ist harte Probenarbeit. Ahmet Üstündag erzählt, dass er am Wort „Jahrhundert“ gescheitert ist. Nun sagt er „Epoche“, das ist leichter. Aber Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, das bleibt, da muss er eben noch üben. Es gibt aber auch viele spielerische Elemente, aberwitzige, traurige, sehnsuchtsvolle. Maike Krause arbeitet gerne mit Laien, sie schätzt ihre Wachheit und Lebendigkeit, ihre Unmittelbarkeit, sagt sie.

Auch die Schauspieler sind vom Theaterspielen angetan. Seine Gefühle auf Deutsch auszudrücken, das sei für ihn eine ganz neue Erfahrung, meint Ahmet Üstündag. Für Emre Cam ist Deutsch kein Problem, darin ist er mehr zu Hause als im Türkischen. Aber die ernste Haltung, die Körpersprache, die sei fordernd. Ali Özer ist glücklich, dass er mitspielen darf, dass er gelernt hat, aus sich herauszugehen, sich zu trauen. Suna Turhan fühlt sich erst jetzt, durch das Spiel, in Bremen angekommen. Und alle dachten durch „Flieder und Flagge“ viel darüber nach, wo ihr Zuhause ist. Eine Frage, die sie auch dem Publikum zuspielen wollen.

Uraufführung: 14. Mai, 20 Uhr im Neuen Schauspielhaus